Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
die Wochenendplanung durchzusprechen. Da der Mann in diesem Fall den Kalender führt, kommt fast automatisch von seiner Frau die Frage, was
denn am Wochenende so anstehe. Ihr fehle mal wieder der Überblick. An diesem Morgen fiel die Antwort anders aus als sonst. Er sagte nämlich wahrheitsgemäß: »Nichts, es steht nichts an. Wir haben das Wochenende zur freien Verfügung und können ausspannen.« Man sollte erwarten, dass die Gattin sich über diese seltene Gelegenheit freut und frohen Mutes den kommenden Tagen entgegenblickt. Das Gegenteil war der Fall.
Zunächst ein ungläubiger Blick. Dann ein zarter Versuch: »Du willst mich veräppeln. Sag schon, was ansteht, ich hab’s im Moment nicht im Blick.« Woraufhin er beteuerte, das sei schon ernst gemeint gewesen, sie hätten tatsächlich mal ein freies Wochenende. Als ihr langsam klar wurde, dass ihr Mann nicht scherzte, wurde sie unruhig. »Und was machen wir?«, kam etwas unsicher. Dann: »Wir müssen doch irgendwas machen. « Schließlich fing sie fast panisch an, Pläne zu schmieden, wie die freie Zeit ausgefüllt werden konnte. Womit in diesem Moment auch die ansatzweise vorhandene Entspannung ihres Mannes gleich wieder über den Haufen geworfen worden war. »Als ich ihr ins Gesicht schaute«, erzählt mir ihr Mann später, »sah ich vor allem Anzeichen von Unruhe. Die Stirn gerunzelt, die Augen unruhig. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, die freien Tage auf sich zukommen zu lassen und nicht von vornherein durchzuorganisieren. Und ich fühlte mich bald davon angesteckt.«
Die beiden sind keine Ausnahme. Obwohl sie das Gefühl der Überforderung gut kennen und es sie bisweilen quält, sind sie – wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben – stets bestrebt, keinen Leerlauf aufkommen zu lassen, Zeit zu füllen, anstatt freie Zeit zuzulassen. Der moderne Begriff vom
Freizeitstress ist ja schon ein Paradox für sich. Freie Zeit sollte sich eigentlich gerade durch die Abwesenheit von Stress definieren und Phasen beinhalten, in denen der Mensch sich eben nicht durch seine Außenwelt definiert und auf diese reagiert, sondern sich selbst genügt.
Solchen Situationen ist eins gemeinsam: Der Mensch ist auf sich geworfen, es fehlt die übliche Ablenkung, der ständige Input von außen. Uns ist langweilig, und das löst Unbehagen aus. Langeweile ist heute ein fast verbotenes Gefühl, es bedeutet Unproduktivität, fehlende Arbeitsauslastung, Faulheit. Es will uns nicht mehr gelingen, den Begriff der Langeweile durch ein anderslautendes Wort zu ersetzen, das eigentlich einen ähnlichen Gemütszustand beschreibt: die Muße.
Indem wir den Zustand der Langeweile zu vermeiden suchen, verhindern wir, dass wir Muße finden. Dabei wäre Muße die Chance, die eigene Mitte wieder zu finden und den negativen Strömungen des Alltags etwas entgegenzusetzen. Muße zu finden und genießen zu können würde bedeuten, sich selbst wieder auszuhalten, mit sich eins zu sein und seine Position in der Welt verorten zu können.
Die meisten Menschen können das heute nicht mehr. Wenn der äußere Reiz fehlt, drohen Langeweile und Beschäftigung mit uns selbst, Dinge, die wir nicht aushalten. Doch was wir dabei nicht aushalten, das sind letztlich eben gerade wir selbst. Wir halten uns selbst nicht mehr aus, ein Zustand, der für den Menschen des 21. Jahrhunderts fast zum Grundgefühl der eigenen Befindlichkeit geworden ist.
Damit findet eine innere Entmächtigung statt: Wenn wir uns selbst nicht mehr aushalten, sind wir auch nicht mehr
unser eigener Herr. Unbewusst suchen wir nach der dauernden Fremdbestimmung. Auf diese Weise jedoch kommen wir nicht mehr mit der Außenwelt klar, weil wir das Heft des Handelns nicht mehr in der Hand haben.
Wir sind außer uns – statt in uns selbst zu ruhen
Sprache ist verräterisch. Ausdrücke und Redewendungen, die wir manchmal jeden Tag benutzen, ohne groß über sie nachzudenken, sagen manchmal eine ganze Menge über uns aus.
Wenn Menschen in große Wut geraten, Dinge tun, die sie von ihrer Persönlichkeitsstruktur her eigentlich nie tun würden und die ihnen kurze Zeit später sehr leidtun, heißt es in den Versuchen einer Begründung häufig, sie seien »außer sich« gewesen. Wenn jemand Fehler macht, die für ihn komplett ungewöhnlich sind, etwa, weil er sehr müde ist, sagt man als Entschuldigung gerne: »Er stand total neben sich.«
Ohne dass wir es im Alltag merken würden, liefert die Sprache uns mit diesen häufig
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