Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
nicht alle Mails beantwortet, nicht alle Freunde zufriedengestellt zu haben, befällt uns häufig und trägt zur inneren Unruhe bei. In der modernen Welt gibt es immer genügend Unerledigtes, das uns um den Schlaf bringen kann.« 19 Es wäre sicherlich hoch interessant, anhand von Studien herauszufinden, ob es in den letzten zehn bis 15 Jahren eine signifikante Zunahme an Schlafstörungen gegeben hat und wie die Erklärungsansätze für ein solches Phänomen aussehen könnten.
Die Frequenz ist entscheidend
Ist die Psyche des modernen Menschen weniger gut gerüstet für den Umgang mit Negativ-Nachrichten? Halten wir weniger aus als unsere Vorfahren?
Solche Fragen führen zu falschen Antworten, denn die heutige Situation ist eine grundsätzlich andere geworden. Die Psyche des Menschen hat einen entscheidenden Nachteil: Man kann sie nicht sehen. Wenn ich jemandem vors Schienbein trete, sind die Auswirkungen schnell nachvollziehbar. Ein Bluterguss bildet sich, sollte der Tritt stärker gewesen sein, bricht vielleicht sogar der Knochen. In jedem Fall äußert sich die Folge der äußeren Einwirkung visuell erkennbar. Sie lässt sich nicht wegdiskutieren, und es ist für jeden einzusehen, dass eine Gegenreaktion erfolgen muss.
Äußere Einwirkungen auf die Psyche gibt es jeden Tag, ihre Folgen bleiben für uns jedoch zunächst einmal im Verborgenen. Die Psychiatrie versucht, sie mittelbar zu erschließen, bleibt dabei jedoch weit stärker auf Hypothesen angewiesen, als wenn es sich um physische Leiden wie das erwähnte kaputte Bein handelt.
Möglich ist es jedoch, Zusammenhänge herzustellen, Zusammenhänge zwischen wiederkehrenden Einflüssen auf die Psyche und erkennbaren Auswirkungen. Nichts anderes mache ich hier, wenn ich den Einfluss von Negativnachrichten auf unsere psychische Konstitution untersuche.
Eine einzelne negative Nachricht hat heute eine Vielzahl von Verbreitungskanälen. Unterschiedlichste mediale Wege
sind vorhanden, um die gleiche Nachricht immer und immer wieder an den Mann und die Frau zu bringen. Die Vielzahl der Kanäle sorgt dabei auch für deren Konkurrenzverhältnis untereinander. Wenn also eine Zeitung die anderen ausstechen möchte, ein TV-Sender mehr Wirkung (sprich: Quote) erzielen möchte als die anderen, dann gilt es, die Wirkung der einzelnen Nachricht noch zu verstärken. Das gelingt immer dann am besten, wenn der Sender eine Möglichkeit findet, beim Empfänger Panik zu schüren.
Panik muss man dabei an dieser Stelle ganz klar von Angst unterscheiden. Angst (oder: Furcht) ist grundsätzlich auf eine ganz bestimmte Sache gerichtet. Man hat beispielsweise Angst vor einem Hund, davor, etwas Bestimmtes zu tun, oder davor, dass etwas ganz Konkretes passiert. Gegen diese Angst kann man etwas tun, die Situation zumindest zum Teil noch steuern. Bezogen auf den Hund könnte man etwa die Straßenseite wechseln, um einer möglichen Konfrontation auszuweichen. Egal, worum es konkret geht, Angst ist gekennzeichnet dadurch, dass es einen für die Angst verantwortlichen Punkt gibt, der die Psyche erschüttert und an dem man ansetzen kann, um eine Lösung zu finden.
Anders ist es, wenn wir von Panik sprechen. Panik ist ungerichtet, unbestimmt. Sie erzeugt ein diffuses Gefühl, von dem man nie genau sagen kann, wo am besten anzusetzen wäre, um es zu bekämpfen. Panik ist aber auch das Gefühl, das im Falle einer Katastrophe erzeugt wird. Angst hat man in der Katastrophe vor einzelnen Ereignissen, das übergeordnete Gefühl ist jedoch das einer Panik, die durch die innere Ungewissheit im Angesicht der Katastrophe und durch deren schieres Ausmaß verursacht wird.
Während der Vorarbeiten zu diesem Buch ebbte beispielsweise europaweit gerade eine Panikwelle langsam wieder ab. Ausgelöst, man mag es eigentlich immer noch kaum glauben, durch den Ausbruch eines einzelnen Vulkans im fernen Island. Die dabei entstandene Aschewolke verteilte sich einige Wochen lang gleichmäßig über den Kontinent und legte tagelang den Flugverkehr lahm. Tausende Touristen saßen an ihren Urlaubsorten fest, Geschäftsleute verpassten Termine, lediglich die Anwohner in der Nähe von Flughäfen freuten sich über einige Tage Verschnaufpause.
Wer die Berichterstattung über dieses Phänomen verfolgte, musste schnell den Eindruck bekommen, die Apokalypse könne nicht mehr fern sein. Deutschlands größte Boulevard-Zeitung rechnete flugs aus, was denn passierte, wenn der Vulkan noch sechs (!) Monate lang Asche spuckte:
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