Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
verwendeten Ausdrücken eine Art Beweis für das in diesem Buch Gesagte. Wer »außer sich« ist, wer »neben sich steht«, kann nicht gleichzeitig in sich ruhen und seine Mitte spüren.
»Außer sich sein« und »neben sich stehen« sind aber zwei sehr negativ konnotierte Redewendungen. Wir benutzen sie im Zusammenhang mit fehlerhaftem Verhalten, oft sogar mit sehr schlimmen Verfehlungen bis hin zu Straftaten. Sie beschreiben, dass wir in den Momenten, in denen es uns so geht, nicht mehr Herr unserer Gedanken sind, nicht mehr
logisch nachvollziehbar handeln und Recht nicht mehr von Unrecht unterscheiden können.
Sie dienen folglich also auch als eine sprechende Umschreibung von Stress, als ein Bild, das wir uns von uns selbst machen, um uns zu entlasten, wenn wir aus einer geheimnisvollen Getriebenheit heraus Fehler gemacht haben. Wir benutzen solche Ausdrücke, weil wir uns dann selbst besser vorstellen können (und damit eine Entschuldigung haben), warum wir einen Fehler gemacht haben.
Richtig machen können wir die Dinge nur, wenn wir »wir selbst« sind, das erscheint uns logisch. Wer außer sich ist und neben sich steht, ist nicht er selbst; das bedeutet in der Konsequenz nicht nur, dass Fehler möglich sind, sondern sogar, dass sie eigentlich ein anderer begangen hat, nämlich unser Alter Ego, das im Moment der Tat neben uns stand und außerhalb unseres Selbst agierte, wir werden gewissermaßen zu Dr. Jekyll and Mr. Hyde.
Nun geht es hier natürlich nicht um das Thema Straftaten, aber die Zahl der Entscheidungen, die wir im Nachhinein für falsch oder zumindest problematisch halten, steigt doch bei vielen von uns an, weil wir sie unter hohem Druck und Stress getroffen haben.
Das Gegenteil von »außer sich sein« und »neben sich stehen« ist offensichtlich. Wer ausdrücken möchte, dass er sich eben nicht überfordert und getrieben fühlt, hat dafür eine ganze Menge Begriffe zur Verfügung: Er »ist mit sich selbst eins«, er »ruht in sich selbst«, er »fühlt seine Mitte«, er ist »ganz bei sich«, er steht »mit sich und der Welt in Einklang«. Ihnen fallen vermutlich weitere Wendungen ein, die allesamt den gleichen Umstand bezeichnen.
Jeder von uns könnte sofort sagen, welchen der beiden
Zustände er für erstrebenswert hält. Und niemand würde behaupten, er stünde gerne neben sich, jeder wäre am liebsten allzeit mit sich und der Welt im Einklang. Trotzdem gibt es diese Phasen, in denen wir ein anderer zu sein scheinen, der uns durch den Alltag treibt, ohne uns Ruhe zu gönnen, und der dafür sorgt, dass wir Dinge tun, die wir bei Licht besehen gar nicht unbedingt hätten tun wollen. Und diese Phasen mehren sich.
Bislang fehlte eine schlüssige Erklärung dafür, warum wir bisweilen so janusköpfig handeln, warum wir ein Verhalten zeigen, das nicht zu uns zu gehören scheint. Stress an sich ist ja keine Erklärung, keine Ursache, sondern seinerseits nur ein Symptom. Zu sagen, wir hätten Fehler begangen, weil wir Stress hatten, hilft uns nicht weiter. Und auch die vordergründige Erkenntnis, dass Stress durch eine Überforderung ausgelöst worden ist, drückt eben nur die halbe Wahrheit aus.
Die andere Hälfte erklärt, warum wir mit Stress eigentlich fertig werden können, uns diese Fähigkeit aber heute weitgehend abhandengekommen zu sein scheint. Dabei hilft es, sich die tiefere Bedeutung der Wörter klarzumachen. Mit dem Stress umgehen kann derjenige, der »in sich selbst ruht« und »mit sich im Reinen« ist. Nur dann ist der Stress außen vor, und das Handling klappt. Wer dagegen »außer sich« ist, verschmilzt mit dem Stress, lässt sich von ihm vor sich her treiben und braucht ihn schließlich, um die Psyche im Gleichgewicht zu halten.
Die Frage nach der inneren Ruhe bedeutet also nicht einfach nur die Überlegung, ob man mal einen freien Tag nehmen könnte, sondern sie ist von existenzieller Bedeutung für unser Leben als soziales Wesen. Nur wenn ich bei mir
selbst bin, kann ich mich unter anderen frei und selbstbestimmt bewegen; wenn ich neben mir stehe, stehe ich damit auch oft genug jemandem im Weg.
Überlegen Sie mal, wann Sie zuletzt alleine einen längeren Wald- oder auch Strandspaziergang gemacht haben. Erst letzte Woche, und es war angenehm und entspannend? Wenn das so ist, dürften Sie zur Minderheit gehören, die sich ein Gefühl dafür bewahrt hat, wie wunderbar das sein kann. Die Tendenz ist eine andere, und ich habe diesen Effekt häufiger selbst miterlebt. Der
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