Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
der Information begleitendes Bildmaterial beigemischt wird. Dabei gilt mittlerweile: Je näher dran, desto besser. Flog der Kameramann früher vielleicht nur über ein Katastrophengebiet und zeigte es relativ unkonkret als großes Ganzes, so wird heute ganz gezielt nach der einzelnen Story gesucht, nach dem Menschen, der sein Hab und Gut verloren hat, vor seinem zerstörten Haus steht und am besten noch weint. Statt einer Berichterstattung im Rahmen der normalen Nachrichtensendungen gibt es Sondersendungen und Online-Live-Ticker, ebenfalls kombiniert mit mög-lichst
viel Bildmaterial, wobei verschärfend hinzukommt, dass mit vielen Bildstrecken auf Websites hohe Klickraten generiert werden können, was per se dazu führt, dass zu jedem möglichen und unmöglichen Thema Unmengen an Bildmaterial gestellt werden. Diese Art des Zu- und Umgangs zu und mit Informationen hat viel tiefgreifendere Auswirkungen als eine bloße Faktenberichterstattung. Und eines ist klar: Je höher das Katastrophenpotenzial, desto höher die Einschaltquote. Als im Jahr 2010 die Rettung chilenischer Bergleute aus einem eingestürzten Schacht live übertragen wurde, wäre die ohnehin gute Quote vermutlich noch einmal explodiert, wenn etwas schiefgegangen wäre. Für unsere Psyche wäre der Umschlag von einem eigentlich positiven Ereignis wie der Rettung in das Drama eines weiteren Unfalls aber schlimm gewesen, ohne dass wir das wirklich bewusst realisiert hätten.
Wenn dieser Informations-Emotions-Mix über Massenmedien verbreitet wird, kann man von einer Art Traumatisierung sprechen. Der Einzelne ist mit der Informationsverarbeitung im Kopf überfordert, jede für sich genommen noch nicht unbedingt dramatische Information wird durch die Inszenierung größer, als sie vorher war, und nimmt einen ihr eigentlich nicht zustehenden Platz ein.
Man muss sich klarmachen, dass die Verwendung von Bildern heute oft den Informationswert einer Nachricht nicht wesentlich erhöht. Bedient wird immer häufiger vor allem ein dem Menschen innewohnender Voyeurismus, den sich diejenigen, die diese Bilder verwenden, vor allem ökonomisch zunutze machen. Immer sensationellere Bilder im TV erhöhen die Einschaltquote, grausame Videos auf Webseiten verlängern die Verweildauer der Nutzer, Bildstrecken auf
Nachrichtenseiten im Internet sind vor allem für eins gut: Sie erzeugen hohe Klickzahlen, die von der Werbeabteilung des Mediums als Argument im Online-Anzeigenverkauf eingesetzt werden können. Dass auch der Zeitschriftenverkauf am Kiosk vor allem über die Wirkung des (Katastrophen-)Covers beeinflusst wird, ist ein alter Hut ...
In all diesen Fällen dienen Bilder vor allem als Kaufanreiz. Da aber die Absatz- bzw. Ertragssituation in den Medien seit Jahren in einer schweren Krise steckt, entsteht der Eindruck, dass immer mehr Bilder, immer härtere und grauenvollere Abbildungen und Videos hermüssen, damit der Kampf um den Leser, Zuschauer und User gewonnen werden kann. So funktioniert jedenfalls scheinbar die Logik der Marketingstrategen in den Chefredaktionen und Vertriebsabteilungen.
Was hier zunächst wie Medienkritik klingt, die mittlerweile vielerorts zu hören und zu lesen ist, hat für die Zusammenhänge, um die es mir geht, schlimme Konsequenzen. Ich habe den Begriff der »Traumatisierung« bereits genannt. Im Grunde haben wir es hier mit einem doppelten »Traumatisierungseffekt« zu tun. Zuerst sehen sehr viele Menschen die gleichen negativen Nachrichten mit den entsprechenden Bildern, daran anschließend verstärkt sich das Gesehene einerseits dadurch, dass es in vielen anderen Kanälen nochmals wiederholt wird, andererseits aber auch, indem die Menschen untereinander darüber sprechen und sich gegenseitig Angst machen.
Es muss allerdings an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass der Begriff der »Traumatisierung« hier nicht im engeren Sinne gebraucht wird, sondern zur Verdeutlichung dessen, was der einzelne Mensch erlebt. Dieser ist nicht traumatisiert
in dem Sinne, dass er eine Therapie bräuchte, sondern es gelingt ihm nicht mehr in ausreichendem Maße, Schreckensbilder zu distanzieren, sie kommen zu nah an ihn heran und setzen sich fest.
Im gleichen Maß kann sich auch die Verstärkung der Nachricht durch Musik auswirken. Man erinnere sich an die Welle der Empörung, die das ZDF erreichte, als Bilder über die Erdbebenkatastrophe in Japan vom Frühjahr 2011 statt mit einem journalistischen Kommentar einfach mit dem Intro des Stückes
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