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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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hier keine Ferndiagnose stellen, aber seine Beschreibung zeigt doch recht gut, wie sich der Mensch quasi automatisch in einer Phase der eigentlichen Ruhe (Urlaub) die Unruhe (Mails) wieder heranzieht, ohne dass irgendeine Notwendigkeit dafür bestünde. Das süße Nichtstun im Urlaub auszuhalten scheint unendlich schwer.
    Was Rühle auch erwähnt, ist der Drang, sich ständig vor den Unkenrufern zu rechtfertigen. Als er sein Experiment des halbjährigen Offline-Seins startete, fühlte er sich verpflichtet, an den ersten Tagen immer wieder zu versichern, dass er nichts Grundsätzliches gegen das Internet habe und die darin enthaltenen Möglichkeiten für großartig hielte. Es scheint gar nicht möglich, diese Erkenntnis einfach stillschweigend vorauszusetzen und sich ausnahmsweise mal direkt nur mit den negativen Auswirkungen zu beschäftigen. Die Front derer, die solche Stimmen als mittelalterlich empfinden und die Mahner dementsprechend gerne an den digitalen Pranger stellen möchten, ist groß und geschlossen. Die Stimmen derer, die eine differenzierte Sichtweise an den Tag legen, nehmen zwar langsam zu, sind aber immer noch nur schwer zu hören.

    Der Politikbetrieb als Menetekel der gesellschaftlichen Entwicklung
    »Wirklich, er war unentbehrlich! / Überall, wo was geschah / Zu dem Wohle der Gemeinde, / Er war tätig, er war da. / Schützenfest, Kasinobälle, / Pferderennen, Preisgericht, / Liedertafel, Spritzenprobe, / Ohne ihn, da ging es nicht. / Ohne ihn war nichts zu machen, / Keine Stunde hatt’ er frei. / Gestern, als sie ihn begruben, / War er richtig auch dabei.« (Wilhelm Busch)
     
    In einem SPIEGEL-Artikel (2/2011, S. 42ff.) unter dem schönen Titel »Die zerhackte Zeit« beschreiben die Autoren Markus Feldkirchen und Dirk Kurbjuweit, wie sich die Beschleunigung des Lebens durch moderne Medien auf die politische Klasse auswirkt. Die Erkenntnisse in diesem Artikel sind symptomatisch für die allgemeine Entwicklung und bieten einen furchterregenden Ausblick auf das, was den Normalmenschen mittelfristig erwarten könnte.
    Da wird etwa das Beispiel des SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach angeführt, der am Ende eines Tages nachzählt, er habe »20 Leuten eine SMS geschickt, dazu 32 Telefonate«. Fazit dieses Tages: »Kommuniziert habe er vergleichsweise wenig.« Gut, vergessen wir die 20 SMS, manch 15-Jähriger schickt vermutlich heute täglich die doppelte Menge raus, ohne dass diese eine wichtige Funktion in seinem täglichen Leben hätten. Aber 32 Telefonate? Wie viele hat Lauterbach, wenn er »viel« kommuniziert? Man möchte es eigentlich gar nicht wissen. Einige davon werden kürzer gewesen sein, andere länger; wenn man von lediglich drei
Minuten pro Telefonat ausgeht, kommt man immerhin auf anderthalb Stunden telefonieren an einem unterdurchschnittlichen Tag. Wer da nicht multitaskingfähig ist, hat schon verloren.
    Und Lauterbach ist ja noch nicht einmal »wichtig« im engeren Sinne. Er hat keinen Ministerposten, tigert »lediglich« als »Experte« durch Fraktionssitzungen, Talkshows und andere Termine. Wichtige Leute wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, um die es in dem Artikel dann auch schwerpunktmäßig geht, bekommen schon mal am Tag 70 SMS nur von ihrem persönlichen Nachrichtendienst zugeschickt. 70 SMS, die gelesen, geistig verarbeitet und bewertet werden wollen. Die meisten normalen Menschen wären nach zwei Tagen reif für die Klinik.
    Die Autoren diagnostizieren dann auch in Anlehnung an einen Text von Karlheinz Geißler in einem Sammelband über »Sozialfiguren der Gegenwart« 25 , Politiker gehörten zum Typus der »Simultanten«, die »eine ausgeprägte Leidenschaft für die Vergleichzeitigung« hätten. Das ist eine Umschreibung für den Versuch, Multitasking weiter zu perfektionieren, jene Fähigkeit also, von deren fatalen Nebenwirkungen hier die Rede ist, die der SPIEGEL-Artikel indes als »hohe Kunst« und »Anforderungsprofil an einen modernen Politiker« definiert, nachdem Karl Lauterbach den Journalisten im Brustton der Überzeugung klargemacht hat, wie er und seine Kollegen zu funktionieren haben. Lauterbach nämlich zeigt den SPIEGEL-Leuten eine Art Fitness-Gerät,
eine Platte, unter der sich eine Kugel befindet. Dann wird er zitiert: »Sie sind dann gut, wenn Sie auf dieser Platte auf einem Bein stehend balancieren können, Ihrem Gegner in die Augen sehen und dabei gleichzeitig treten und schlagen können.«
    Die Assoziation zur eierlegenden Wollmilchsau, dem

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