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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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»Teardrop« der Band Massive Attack unterlegt wurden. Der Effekt war der eines Musikvideos, das grausame Bilder von reißenden Fluten, hilflos fliehenden Menschen und einem explodierenden Atomkraftwerk mit entsprechend dramatischer Musik kombiniert. Nur dass in diesem Fall die Bilder nicht Fiktion, sondern Realität zeigten. Andere Sender handelten ähnlich (das ZDF bekam nur die meisten Prügel für diesen Vorgang), ein Sprecher des Senders N24 verwies gar darauf, die Musik solle den Effekt haben, den Emotionen des Zuschauers zu entsprechen.
    Diese Vorgänge waren so unverfroren von Seiten der Medien und so deutlich, dass sie entsprechende Proteste nach sich zogen. Doch wie oft wird die emotionale Wirkung von Musik auf ganz ähnliche Weise eingesetzt, ohne dass wir es noch auf so bewusste Weise als bedrohlich realisieren? Unsere Psyche jedoch realisiert es, und je höher die Frequenz solcher Vorgänge, desto stärker gerät unsere Psyche unter den Eindruck, die Welt bestehe nur noch aus Katastrophen.
    Dass die Frequenz nicht nur hinsichtlich negativer Nachrichten eine Rolle spielt, sondern auch absolut gesehen die Psyche zunehmend vor Anforderungen stellt, denen sie nicht
mehr gewachsen scheint, ist in letzter Zeit Thema vieler Publikationen. Eindrucksvoll beschreibt dieses Phänomen der SZ-Journalist Alex Rühle, der mit einem Buch über seinen Versuch, ein halbes Jahr ohne Internet zu leben, Aufsehen erregte:
    »Es ist nie genug. Wenn ich einen Zeitungstext geschrieben habe, stellt sich nur selten ein Gefühl der Befriedigung ein. Eher ist es, als würde ich im Keller meiner Angst eine Kartoffel unten aus einem ewig steilen Haufen ziehen: Sofort kollern aus dem Dunkel zehn andere hinterher. Die meisten Mails, die ich schnell beantworte, haben wiederum neue Antwort-Mails zur Folge. Sollte ich am Jüngsten Tag gefragt werden, warum ich nicht mehr Gutes, Sinnvolles, über den Tag Hinausweisendes getan habe, ich werde dem lieben Gott meine rappelvolle Mailbox zeigen und sagen: ›Ich musste antworten.‹ Wobei, wenn ich’s mir recht überlege, ich bin am Jüngsten Tag eh nicht da, da habe ich einen wichtigen Termin.« 23
    Rühle beschreibt, wie sehr der Mensch sich im nicht abreißenden Strom von Informationen zu verlieren droht. Wie soll man seine Mitte finden, wenn das Leben an den Rändern immer mehr ausfranst?
    Wenn man sich das Zitat aus Rühles Buch noch einmal anschaut, wäre allerdings etwas anderes viel interessanter als die Feststellung, dass die »rappelvolle Mailbox« ein Überforderungsgefühl auslöst. Was wäre denn, wenn die Mailbox leer wäre? Wäre Rühle erleichtert und würde sich freuen, Zeit zu haben, um »Gutes, Sinnvolles, über den Tag Hinaus-weisendes«
zutun? Sein Experiment des Offline-Lebens zielt ja in diese Richtung (offline sein heißt auch, eine leere Mailbox zu haben, und zwar in diesem Fall dauerhaft) und zeigt ganz klar, dass es so einfach nicht ist. Der Zustand wird zunächst einmal nicht als entlastend und beruhigend empfunden, sondern als Nervosität stiftend. So beschreibt er einen ersten Versuch, sich vom ständigen Online-Sein abzukoppeln, indem er einfach nur in einem zweiwöchigen Urlaub den Laptop daheim lässt. Statt die Ruhe zu genießen, fühlt er sich von permanenter Unruhe erfasst:
    »Zwei Wochen ohne, das werde ich ja wohl schaffen. Ist doch Urlaub. Von wegen. Es war wie kalter Entzug. (...) Am dritten Tag, wir bummelten durch die Fußgängerzone (...), entdeckte ich das Internetcafé. Natürlich nicht zufällig, ich hatte während des ganzen Spaziergangs (...) nach nichts anderem Ausschau gehalten. Da! Endlich! Ein Mofaverleih, an dessen Schaufensterscheibe ein gelbes @-Zeichen klebte. Es war, als würde dieses Zeichen nicht von meinem Gehirn entziffert, sondern von meinem innersten Triebzentrum. Ich hatte es wahrgenommen, noch bevor ich es wirklich gesehen hatte.
    (...)
    Von da an bin ich unter absurden Vorwänden alle zwei Tage ins Dorf hochgeschlichen, um kurz meine Mailbox zu öffnen. Keine der Mails musste unbedingt beantwortet werden. Ach was, unbedingt. Keine der Mails musste überhaupt beantwortet werden. Ich hab’s trotzdem getan.« 24

    Besonders die Bemerkung mit dem Gehirn und dem Triebzentrum ist bezeichnend. Wie beschrieben, versucht unsere Psyche stetig, sich einen bestimmten Zustand zu erhalten, und das ist eben heute meist jener hochgedrehte Zustand, in dem wir ständig nach Beschäftigung suchen. Ich kenne Alex Rühle nicht persönlich und will

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