Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Gedanken mitteilte:
Das Erste, was ich normalerweise richtig mitbekomme, sind die Frühnachrichten. So auch an diesem Morgen: Australien hatte zu jener Zeit mit schweren Überschwemmungen zu kämpfen, der Nachrichtensprecher verkündete die deprimierende Zwischenbilanz: elf Tote. Als zweite Meldung berichtet der Sprecher von Erdrutschen in Brasilien, die die Armenviertel teilweise dem Erdboden gleichmachten. 250 Tote, mein imaginärer morgendlicher Leichenzähler also schon bei 261. Auf dem Rhein, so die nächste Meldung, sei ein Schiff gekentert und von der Bildfläche verschwunden, mindestens zwei Besatzungsmitglieder seien vermisst und vermutlich ertrunken. 263. Mit Option auf Erhöhung, denn der Sprecher versicherte flugs: »Wir halten Sie auf dem Laufenden ...« Den Abschluss des ganz normalen frühen Bombardements bildeten ein schlimmer Unfall auf der A3 (ohne Tote) und der Wetterbericht, der mit einer Unwetterwarnung aufwarten konnte. Starker Regen in den nächsten zwei Tagen. Unwetterwarnung ...
Auch wenn all das eher angetan gewesen wäre, liegen zu bleiben und die Decke über den Kopf zu ziehen, stand ich auf und fand mich schließlich am Frühstückstisch ein. Ein Blick in die Tageszeitung ließ mich wissen, dass am Rhein eine neue Hochwasserwelle anrolle. Die Redaktion hatte das zum Anlass genommen, eine Umfrage zu zitieren, der zufolge die Deutschen zu einem großen Teil Angst vor der globalen Erwärmung haben. Im Gesellschaftsteil ein Bericht über Michael Jackson, genauer gesagt, über Jacksons Kardiologen, der Medikamente zu hoch dosiert haben soll und auf den ein Berufsverbot warte. Unterschwellige Botschaft: »Kann man jetzt nicht mal mehr den Ärzten trauen?« Darüber hinaus: Dioxinskandal mit Gift in Eiern und Fleisch, Wettskandal im Sportteil, Vertuschungsskandal bei der Bundeswehr und vieles mehr. Only bad news are good news. Den Rest gaben mir dann Gerüchte über neue Schweinegrippefälle, bei denen ich mich auch persönlich plötzlich betroffen fühlte, weil ich anfing, nachzudenken, ob denn meine Kinder auch dagegen geimpft werden müssten. Und ich selbst auch.
Gegen halb acht an einem Morgen, an dem ich ohne nennenswerten zu erwartenden Stress aufgewacht war, hatte die Welt ihre Last bereits auf meinen Schultern abgeladen, ohne dass ich sie darum gebeten hatte ...
Dieser Bekannte beschrieb mir weiter, wie er, am Arbeitsplatz angekommen, damit klarkommen musste, dass es mal wieder Gerüchte gab, der Firma gehe es nicht gut und es seien Arbeitsplätze gefährdet. Abends unterhielt man sich dann noch darüber, wie sicher denn der Betreuungsplatz des jüngsten Kindes sei und ob man sich nicht um einen neuen kümmern müsse. Und die Weltnachrichten waren über den Tag auch nicht gerade besser geworden.
So und so ähnlich kennen das viele von uns. Dauerbeschuss mit Negativnachrichten, die sich vermengen mit realen Bedrohungen des Alltagslebens. Kaum jemand kann dabei wirklich entspannt bleiben. In diesem Moment passiert etwas ganz Entscheidendes: Die Psyche hat durch die Kombination beider Belastungen keinen Ausweg mehr und stellt auf Katastrophenmodus um. Diese Kopplung in unserer Psyche ist so bisher nicht erkannt und beschrieben worden; als Kernpunkt meiner Analyse führt sie zum Verstehen, wie wir zurück zur Intuition und erst damit zur angemessenen Beziehungsebene zu unseren Kindern gelangen können.
Wenn wir diesen Mechanismus aber erkennen, sind wir auf dem Weg zu einer Lösung. Wir müssen an den Hebel im Kopf ran, der in die falsche Richtung umgelegt wurde und den Katastrophenmodus auf »on« geschaltet hat. Wer diesen Mechanismus verstanden hat, kann den Hebel wieder in die andere Richtung umlegen. Wenn wir also das Problem über das Verstehen lösen, können wir durchaus mit den Veränderungen
umgehen, die die Zeit mit sich bringt. Deshalb ist diese Analyse zukunftsweisend und beschränkt sich nicht darauf, den Finger in eine noch nicht erkannte Wunde zu legen. Wenn der Hebel erst einmal wieder umgelegt ist, ruhen wir wieder in uns selbst, sind innerlich abgegrenzt gegenüber den Veränderungen und haben gute Voraussetzungen, um uns nicht erneut immer weiter von uns selbst wegtreiben zu lassen.
Wir sind nur begrenzt in der Lage, auf den steten Zufluss negativer Nachrichten Einfluss zu nehmen; also müssen wir eine Strategie entwickeln, damit fertig zu werden. Alle Stressratgeber zusammen werden hier nicht helfen können; sie bleiben völlig wirkungslos, weil die
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