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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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klaren Gedanken mehr fassen« (eine Formulierung, die zunehmend aus der Mode zu kommen scheint), dann liegt das in der Regel daran, dass zu viele Gedanken im Raum schweben, die eben das Fassen des einen , des klaren Gedankens verhindern.
    Muße hingegen würde das Qualitätsmerkmal in den Vordergrund stellen. Wer Muße hat, etwas zu tun, der wird es angemessen und gut ausführen. Im besten Fall dauert die Erledigung eben so lange, wie sie dauern muss. Dabei ist es egal, ob es um die Herstellung eines Produktes, die Erledigung
einer Dienstleistung oder auch nur um vorbereitende Gedanken für all das geht. Muße bedeutet die richtige Betriebstemperatur für den menschlichen Geist, der im Normalbetrieb unter Dauerüberhitzung zu leiden hat.
    Wer Muße hat, wird Wiederholungen als das ansehen, was sie sind: als hilfreich zur Prüfung des bisher Gedachten und Gemachten und orientierend für das Neue, das aus dem Bisherigen resultieren soll. Oder mit Aldous Huxley gesprochen : »Sechsundsechzigtausend Wiederholungen machen eine Wahrheit.« Wiederholungen entstehen aus Erinnerungen, wenn ich etwas wiederhole, habe ich es bereits einmal gemacht und mache es noch einmal. Es handelt sich also um eine Bewegung in zweifache Richtung: Ich muss nach hinten greifen, aber nur, um zukünftig angenehmer leben zu können. Dieser Gedanke ist nicht neu, Kierkegaard hat ihn bereits im 19. Jahrhundert formuliert: »Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert.« 30
    Wiederholungen produzieren, wie bereits erwähnt, noch ein weiteres Gefühl, das der Muße zuträglich ist: Sicherheit. Das lässt sich am besten anhand des Begriffs der Rituale erkennen. Die meisten von uns haben ihre kleinen täglichen oder wöchentlichen Rituale (und auch diese sind in immer stärkerem Maße von der Atemlosigkeit und dem vermeintlichen Zeitmangel bedroht). Sie dienen als Ankerpunkte im Strom des Alltags, in dem wir mitschwimmen und nicht
unterzugehen versuchen. Das können ganz kleine Dinge sein: die Tasse Kaffee am Vormittag, die immer zur selben Zeit den Arbeitstag einläutet. Die Mittagspause zu einer bestimmten Zeit, vielleicht auch immer mit denselben Kollegen. Oder, ganz besonders, das abendliche Vorlesen beim Zubettbringen der Kinder: ein doppeltes Ritual, denn natürlich brauchen die Kinder diesen Moment der Zweisamkeit mit Mutter oder Vater, aber genauso ist es auch für den vorlesenden Elternteil Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen, ganz bei sich und dem Kind zu sein.
    Diese drei Beispiele dürften so allgemein gehalten sein, dass viele von uns sich wiedererkennen. Und gleichzeitig lässt sich unschwer erkennen, wie bedroht diese Rituale sind. Die Tasse Kaffee am Vormittag? Bedroht vom Chef, der schon beim Reinkommen die ersten fünf Arbeitsaufträge erteilt hat, bedroht vom eMail-Programm, das beim Öffnen mindestens vier dringend zu beantwortende Mails anzeigt. Also bleibt der Kaffee in der Kanne, nicht so schlimm, denkt man sich, kann ja mal passieren.
    Was man nicht merkt, weil es schleichend passiert: Man gewöhnt sich daran, das Ritual abgeschafft zu haben, und wundert sich vielleicht zwischendurch mal darüber, warum man den Arbeitstag mittlerweile schon mit einem Stresslevel beginnt, den man sonst frühestens nach ein paar Stunden erreicht hatte. Das Mittagessen? In vielen Büros ist es heute eine besondere Auszeichnung, die Mittags-»Pause« essend und trinkend am Schreibtisch zu verbringen. Je mehr Krümel des morgens hastig gekauften belegten Brötchens in die Tastatur fallen, desto produktiver ist der Mitarbeiter. Gewissermaßen der Krümel-Faktor der Leistungsfähigkeit. Selbst das abendliche Vorleseritual scheint oft bedroht durch all
die Dinge, die den Eltern dabei im Hinterkopf herumschwirren, weil der Abend eigentlich noch für diese und jene Überlegung reserviert ist. Man liest dann zwar vor, ist aber in Gedanken schon wieder am Computer. Kinder spüren das sehr stark, wenn die Zuwendung nur äußerlich stattfindet, der eigentliche positive Effekt des Vorlesens ist dann schon fast verloren.
    Was wir dabei kaum bemerken, ist der seltsame Effekt, dass uns all dieser Stress mittlerweile willkommen erscheint. Dieses Paradox nehmen wir meist erst dann wahr, wenn es mal keinen Stress gibt und bei uns statt der zu erwartenden Ruhe eine innere Unruhe entsteht. Wenn

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