Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
nicht immer an der gleichen Stelle liegen. Auch Erwachsenen helfen Wiederholungen; Rituale sind wichtig, gleiche Abläufe
dienen dazu, Sicherheit zu empfinden und innerhalb dieser Sicherheit produktiv sein zu können.
Was hat nun Wiederholung mit Muße zu tun? Nun, für Wiederholungen braucht man Muße. Ruhe, um sich auf eine Sache ein zweites oder drittes Mal einzulassen und neue Seiten zu entdecken. Erst mit dieser Ruhe bei der Wiederholung verschwindet auch das schlechte Gewissen, das uns heute immer plagt, wenn wir uns nicht dem Neuen widmen.
Dabei kommt heute noch etwas anderes hinzu. Das Wort, das die Fähigkeit zur Muße am meisten unter Druck bringt, ist Multitasking. Mehrere Dinge gleichzeitig zu machen und jedes Einzelne auch noch mit zählbarem Erfolg, gilt heute vielen Menschen als höhere Entwicklungsstufe der Menschheit. Um den Denkfehler dabei zu verstehen, helfen zwei Experimente, die Wissenschaftler mit einer Gruppe von Probanden durchführten.
Im ersten wurde dabei die Hirnaktivität der Teilnehmer gemessen, und zwar einmal beim Anhören einiger Sätze und dann beim Betrachten sich drehender Objekte. Anschließend sollten sie beide Anforderungen gleichzeitig erfüllen. Ergebnis: Die Hirnaktivität für die Wahrnehmung der Sätze fiel um 29 Prozent, diejenige für die Betrachtung sogar um 53 Prozent.
Im zweiten Experiment ging es um die Zeit, also das beliebteste Argument für das Multitasking. Die Teilnehmer sollten Aufgaben einmal nacheinander lösen und beim zweiten Mal gleichzeitig an zwei Problemen arbeiten. Im Ergebnis brauchten die Multitasker 40 Prozent mehr Zeit. 28
Das Multitasking treibt die Ablehnung der Wiederholung auf die Spitze. Nicht nur, dass eine Sache nicht zweimal gemacht werden darf, sie muss sich die Zeit zu ihrer Erledigung auch noch mit möglichst vielen anderen Sachen teilen. Dass weniger Zeit zu ihrer Erledigung der Sache an sich dabei nicht unbedingt guttut, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber weitestgehend ignoriert.
Was zählt, ist die Menge der erledigten Aufgaben, nicht primär, wie gut sie erledigt wurden. Ja, eigentlich scheint es nicht mal so wichtig, ob die Aufgabe überhaupt hätte erledigt werden müssen, sie ist längst Selbstzweck geworden, um Produktivität demonstrieren zu können. Quantität vor Qualität. Frank Schirrmacher stellt dazu fest: »Es [das Multitasking] hat einen ganzen Kult des modernen Menschen ausgelöst und übt einen enormen sozialen Druck aus.« Für Schirrmacher folgt daraus: »Alles spricht dafür, dass Multitasking Körperverletzung ist.« 29 Wie er weiter ausführt, senkt Multitasking letztlich die Produktivität des Menschen, da es ihn in einer Weise überfordert, die er auch nicht durch Lernprozesse überwinden kann. Schirrmacher: »Multitasking ist der zum Scheitern verurteilte Versuch des Menschen, selbst zum Computer zu werden.«
Ich würde jedoch noch einen Schritt weiter gehen. Denn jeder, der häufig einen Computer bedient, weiß, dass auch dieser nicht unbegrenzt multitaskingfähig ist. Je mehr Programme, Downloads etc. gleichzeitig auf meinem Rechner laufen, desto langsamer wird dieser, vielleicht kommt es sogar zu einem Systemabsturz. Warum? Weil die Rechen- und Speicherkapazität nicht ausreicht. Nun kann man beim Computer
in der Regel Speicherplatz, also Leistungsfähigkeit nachkaufen und einbauen, sodass hinterher besseres Multitasking möglich ist. Irgendwann wird angesichts höherer Anforderungen der Rechner jedoch auch mit dem neuen Speicher wieder in die Knie gehen. Das geht immer so weiter, eine Spirale ohne Ende.
Auf den Menschen übertragen bedeutet das: Es ist ein Irrglaube der heutigen Zeit, ständiges Bemühen darum, immer mehr Dinge gleichzeitig zu erledigen, führe zu höherer Produktivität. Das Gegenteil ist der Fall. Die Konzentrationsfähigkeit sinkt, die einzelnen Leistungen werden schlechter, auch die Zeit zu ihrer Erledigung wird eher länger.
Der Hirnforscher Gerhard Roth hat zu diesem Thema eine einleuchtende Erklärung geliefert. Die ständige Überreizung des Gehirns mit vielen gleichzeitigen oder schnell aufeinanderfolgenden Reizen lege dieses gleichsam lahm, denn der Mensch sei schlicht und ergreifend nicht in der Lage, mehr als einen Gedanken gleichzeitig zu verfolgen. Das führe zu Gehirnstau und Denkblockade. Was Roth im bereits zitierten SPIEGEL-Artikel (vgl. S. 123f.; Roth-Zitat S. 51) formuliert, gilt sinngemäß für jeden von uns. Wenn wir sagen, wir könnten »keinen
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