Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
muss man eigentlich festhalten, dass sie in diesen Phasen stehen bleibt, ja, mehr noch, dass wir diese schönen langen Weilen nutzen können und sollten, um zurück zu uns zu kommen.
All das hier Gesagte wird bisweilen gern dem Begriff der Muße zugeschrieben. Eine Freundin sagte mir gar, Langeweile sei »die böse Schwester der Muße«. Ich denke, dass der Unterschied in der Absicht liegt. Langeweile tritt unbeabsichtigt auf, und es kommt vor allem darauf an, sie anzunehmen, wenn sie da ist, und als Chance zu begreifen. Daraus erst kann dann Muße entstehen, die ich als bewusst gesuchte und genutzte Form von Langeweile definieren würde.
Muße: Lust, Glück und wahres Leben
Muße ist quasi eine verfeinerte Form der Langeweile. Sie macht glücklich, doch nicht nur das, sie kann auch, quasi als Begleiterscheinung, enorm produktive Folgen haben.
In unserer Kindheit hatten wir meist einige wenige Lieblingsbücher, etwa eine Serie mit einem bestimmten Helden. Obwohl es so viele andere Bücher gibt, lasen wir diese Lieblingsbücher immer und immer wieder, wir zogen uns zurück mit den Figuren, freuten uns mit ihnen, litten mit ihnen und entdeckten bei jeder Lektüre eine neue Facette der Geschichte.
Später dann, mit dem Erwachsenwerden, änderte sich das. Wann haben Sie zuletzt ein Buch zum zweiten oder dritten Mal gelesen, weil sie es so schön fanden? Dem einen oder anderen mag das bisweilen gelingen. Die meisten von uns würden vielleicht schon gerne mal wieder ein Lieblingsbuch erneut in die Hand nehmen, lassen das jedoch bleiben, weil ihnen ständig der Gedanke an all die anderen Bücher im Nacken sitzt, die sie in derselben Zeit nicht lesen können. Oder eben der Gedanke an all die Dinge, die man in der Zeit der Lektüre hätte erledigen können ...
Die Überlegung, die dabei fehlt, ist folgende: Welchen Nutzen ziehen wir aus dem Versuch, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu erledigen? Ist dieser Nutzen wirklich höher, als wenn wir uns auf eine Sache tatsächlich einlassen? Anders gesagt: Warum kommen wir gar nicht mehr auf den Gedanken, dass manches Mal die dreifache Lektüre desselben Buches einen größeren Effekt haben kann als das atemlose Durchhecheln dreier verschiedener Bücher in der gleichen Zeit?
Dieser Gedanke ist uns wohl daher fremd geworden, weil wir Sinn und Zweck von Wiederholungen nicht mehr präsent haben. Wer ständig nur nach vorne schaut und neue Dinge machen will, hat die alten oft noch gar nicht verarbeitet. Man merkt das etwa am soliden Halbwissen, mit dem heute in vielen Bereichen gearbeitet wird und mit dem viele hoffnungsvolle Ansätze verdorben werden.
Wiederholungen jedoch haben seit jeher eine wichtige Funktion. Sie zeigen nicht etwa auf, dass jemand etwas nicht verstanden hat, zu langsam ist oder begriffsstutzig. Sie sorgen vielmehr für das Gerüst unserer Orientierung im Leben. Anders formuliert: Ein ausgeglichener Mensch ist einer, der
denselben Fehler zweimal machen kann, ohne nervös zu werden.
Die regelmäßigste Wiederholung, die wir haben und auf die wir keinen Einfluss nehmen können, ist die Wiederholung des Tagesablaufes. Jeder Tag hat 24 Stunden, jede Stunde 60 Minuten, jede Minute 60 Sekunden. Morgens wird es hell, abends wieder dunkel, und niemand hat es bisher geschafft, diese Abläufe zu beschleunigen. Diese Verlässlichkeit strukturiert unser Tun. Weil sich die Taghelligkeit täglich wiederholt, weiß ich sicher, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Sache unternehmen kann, für die ich Helligkeit brauche. Und eine Nachtwanderung könnte ich niemals planen, wenn ich nicht sicher sein könnte, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt dunkel genug dafür ist.
Wiederholungen sind in der Kindesentwicklung von großer Wichtigkeit. Eine Voraussetzung für die Entwicklung der Psyche ist das Erleben von immer wieder gleichen Abläufen, die zuständigen Nervenzellen »lernen« so die Aufgabe, für die sie gebraucht werden. Man muss sich das so vorstellen, dass diese Nervenzellen alle bereits gebildet sind, jedoch noch auf ihre Bestimmung warten. Sie müssen gewissermaßen mit Inhalt gefüllt werden, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Da dies beim Kleinkind noch nicht der Fall ist, ist sein Gehirn diffus und sucht beständig nach Orientierung. Es braucht immer gleiche Abläufe, ein acht Monate altes Kind etwa kann schon ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten, indem es unruhig wird und sich nicht wohlfühlt, wenn beim Baden die Quietsche-Tierchen
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