Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
aufzumischen, auch wenn es nur eine beigeordnete Beamtin war wie ich. Die Vergeltung wäre gewaltig, und die Organisation wäre für längere Zeit aus dem Geschäft. Wenn der Polizist keinen größeren Schaden angerichtet hatte, ergab das keinen Sinn, und der Mann im Anzug hatte das verstanden. Aber was war mit Ryan? War ein vernünftiger Rat sein einziges Motiv gewesen?
Was war da eben passiert? War ich in Ryans neues Leben gestolpert? War er dort als Mitglied der Bande, oder aus einem anderen Grund? Was hatten seine Aktionen zu bedeuten? Hatte er mich gedemütigt, um mir zu zeigen, dass sein früheres Leben vorüber war und er jetzt zur anderen Seite gehörte, oder war es Teil seiner Strategie gewesen, um mich heil von dort wegzubringen? Hatte er sich selber in Gefahr gebracht?
Ich wusste, dass ich den Vorfall melden sollte. Aber was wäre damit gewonnen? Die Carcajou kannte das Clubhaus und hatte mit Sicherheit Akten über Pascal und Tank.
Carcajou. Claudel und Quickwater. Mein Magen zog sich zusammen. Was würden sie sagen, wenn sie erführen, wie ich mich buchstäblich selber in Todesgefahr gebracht hatte? Würde der Vorfall Claudel nur in seinem Bestreben bestätigen, mich aus der Einheit entfernen zu lassen?
Was, wenn Ryan undercover arbeitete? Würde eine Meldung bei der Polizei ihn in Gefahr bringen?
Ich hatte keine Antworten, aber ich traf eine Entscheidung. Was auch Andrew Ryans Motive sein mochten, ich würde nichts tun, was ihm schaden konnte. Wenn auch nur das geringste Risiko bestand, dass eine Meldung des Vorfalls ihn in Gefahr brachte, würde ich ihn nicht melden. Das entscheide ich morgen, dachte ich.
Als ich nach Hause kam, war Kits Tür geschlossen, aber durch die Wand hörte ich Musik.
Gut gemacht, Tante. Das ist der Grund, warum du keine Polizistin bist.
Ich warf meine Kleider auf einen Stuhl und ließ mich ins Bett fallen. Plötzlich überfiel mich ein Gedanke. Was, wenn Pascal mich irgendwo anders hingebracht hätte? Der Schlaf kam erst sehr viel später.
33
Am nächsten Morgen schlief ich lange und wachte erst gegen zehn völlig verspannt und mit Schmerzen am ganzen Körper auf. Den Rest des Vormittags pflegte ich mich selbst mit Aspirin, Tee und heißen Bädern und versuchte, nicht an die vergangene Nacht zu denken. Obwohl ich blaue Flecken an Beinen und Rücken und einen kleinen Schnitt am Hals hatte, war mein Gesicht so gut wie unversehrt. Nach einem späten Mittagessen legte ich mehr Make-up auf als sonst, zog einen Rollkragenpullover an und fuhr ins Institut, um einige Routinearbeiten zu erledigen. Ich machte keine Meldung.
Als ich nach Hause kam, aßen Kit und ich ziemlich schweigsam zu Abend. Er hatte keine Fragen zu meiner nächtlichen Exkursion, und ich vermutete, er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich nicht hier gewesen war. Ich brachte sein wütendes Hinausstürmen aus der Wohnung nicht zur Sprache, und er bot von sich aus keine Erklärung an.
Nach dem Essen beschloss ich, die Wäsche zu waschen. Ich zog den Korb aus dem Schlafzimmerschrank und warf die Stücke dazu, die ich in der vergangenen Nacht getragen hatte. Dann sortierte ich die Wäsche und belud die Maschine, wobei ich alle Stücke zurückhielt, die einer speziellen Behandlung bedurften. Mein Magen verkrampfte sich, als ich die Bluse mit den Ketchupflecken zur Hand nahm, denn ich hatte die Szene noch immer deutlich vor Augen.
Ich breitete die Bluse aus und besprühte die Flecken, und dabei säuselte mir die Kennmelodie des Fleckentferners durch den Kopf.
Ich mach bei dir jetzt pfft und weg, du Hurensohn. Ich drücke auf den Knopf. Pfft!
Ich stellte mir das Grinsen auf Ryans Gesicht vor, erinnerte mich, wie sein Finger mir in die Brust stach.
Ich drückte noch einmal. Pfft!
Lies das, Shakespeare! Pfft.
Meine Hand erstarrte, und ich starrte das Muster an. Es waren keine beliebigen Kringel, sondern zwei perfekte Sechsen.
Lies das, Shakespeare. Seine Sonette waren Ryans Leidenschaft.
Ich erinnerte mich an etwas, das schon sehr lange zurücklag. High School. Mr. Tomlinson. Englisch in der Oberstufe.
War es möglich?
Ich rannte zum Bücherregal im Schlafzimmer und zog einen Band heraus. The Complete Works of William Shakespeare. Ich wagte kaum zu atmen, als ich das Buch bei den Sonetten aufschlug und zu Nummer Sechsundsechzig blätterte.
Komm, Willie, lass es dort stehen.
Tränen traten mir in die Augen, als ich die Zeile las.
Und große Leistung schnöd herabgedrückt.
Schnöd
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