Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
Beschädigung durch Tiere. Aasfresser hatten so viel abgenagt, dass intakte Ränder, Kämme oder Gelenke nur noch an den allerkleinsten Knochen zu erkennen waren. Die Schambeinfuge und der Darmbeinkamm waren völlig verschwunden, und vom Schlüsselbein waren nur noch Reste vorhanden. Aber eins war sofort klar: Beide Oberschenkelknochen fehlten.
Ich legte die Knochen aus St.Basile zu denen auf dem Tisch. Sie machten das Skelett zwar noch nicht komplett, aber sie waren auch keine Doppelgänger von bereits vorhandenen.
Kate sagte als Erste etwas.
»Sieht aus, als würden sie in Bezug auf Größe und Muskelentwicklung passen. Sie muss ein winziges Ding gewesen sein.«
»Anhand eines Oberschenkelknochens habe ich eine Größe von ungefähr einem Meter siebenundfünfzig errechnet. Mal sehen, was das Schienbein uns sagt.« Ich deutete auf zwei Merkpunkte auf dem Schaft. »Es gibt eine Regressionsformel, die uns eine Berechnung anhand genau dieses Abschnitts erlaubt.«
Ich maß und rechnete. Die Abweichungsspanne war zwar groß, das Ergebnis befand sich aber im Bereich meiner Schätzung anhand des Oberschenkelknochens. Als ich Kate die Zahl zeigte, ging sie zu einem Beistelltisch und blätterte in einer Akte, die dicker war als das Telefonbuch von Manhattan.
»Da ist es. Savannah war einssechsundfünfzig groß.«
Sie blätterte weiter, zog dann einen Umschlag heraus und schüttete einige Fotos auf den Tisch. Den Blick auf eins der Fotos gerichtet, erzählte sie.
»Es war so traurig. Die meisten von Savannahs Klassenkameradinnen hatten keine Ahnung, wer sie war. Und Shallotte ist nicht gerade eine Großstadt. Die Kinder, die ihren Namen oder ihr Foto wieder erkannten, konnten uns nichts über sie erzählen. Sie gehörte zu den Menschen, an die sich niemand erinnert. Geboren 1968. Gestorben 1984.«
Kate hielt einen Schnappschuss in die Höhe.
»Das Mädchen war wirklich beschissen dran. Miserable Familie. Keine Freunde. Auf jeden Fall sieht man hier, dass sie nicht sehr groß war.«
Ich schaute mir das Foto an und spürte Mitleid in mir aufsteigen.
Das Mädchen saß auf einer Decke, einen Vogelscheuchenarm um ihren Bauch gelegt, den anderen mit geöffneter Hand ausgestreckt, um den Fotografen abzuwehren. Sie trug einen Badeanzug, der so weiße Haut zeigte, dass sie fast blau wirkte. Sie hatte ihr Gesicht versteckt, aber die Kamera hatte sie eingefangen, als sie gerade den Kopf hob und mit stark vergrößerten Augen hinter dicken Brillengläsern ins Objektiv blinzelte. Im Hintergrund waren die horizontalen Kämme an den Strand rollender Wellen zu sehen.
Es gab mir einen Stich, als ich das bleiche kleine Gesicht anschaute. Was konnte einen Angriff auf jemand so Zerbrechlichen provoziert haben? Überwältigte ein Fremder sie mit vorgehaltenem Messer, erwürgte sie dann und überließ sie den Hunden? Wann spürte sie, dass sie sterben würde? Schrie sie vor Entsetzen, obwohl sie wusste, dass niemand ihre Schreie hören würde? War sie bei sich zu Hause gestorben, und hatte man sie dann fortgeschleppt und im Wald abgeladen? Als ihre Augen sich endgültig schlossen, spürte sie da Angst oder Resignation oder Erstarrung oder einfach nur Verwunderung? Hatte sie Schmerzen gelitten?
»– Schädelmerkmale vergleichen.«
Kate zog eben Röntgenaufnahmen aus einem großen braunen Umschlag und hängte sie vor den Lichtkasten an der Wand.
»Das ist eine Schädelserie, die vier Monate vor Savannahs Verschwinden aufgenommen wurde.«
Ich holte meine Aufnahmen aus der Sporttasche und klemmte sie neben die Krankenhausbilder. Ich fing mit den Frontaldarstellungen an und verglich die Form der Stirnhöhlen. Diese Hohlräume über den Augenhöhlen, die von klein und einfach bis groß und vielkammerig variieren können, sind für jeden Menschen so charakteristisch wie ein Fingerabdruck.
Savannahs Stirnhöhlen stiegen in die Höhe wie der Kamm auf dem Kopf eines Kakadus, und die Konfiguration auf den Krankenhausbildern entsprach genau der in dem Schädel auf meinen Aufnahmen. Das chirurgische Bohrloch war in jeder Ansicht deutlich erkennbar, Form und Position waren auf den prä- und postmortalen Röntgenbildern identisch.
Es bestand kein Zweifel, dass der Schädel, den wir in St. Basile ausgegraben hatten, Savannah Claire Osprey gehörte. Aber konnten wir den Schädel und die Oberschenkelknochen mit dem unvollständigen Skelett, das man in der Nähe von Myrtle Beach gefunden hatte, in Verbindung bringen?
Bevor ich Montreal verließ,
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