Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
offenbar Sehnsucht nach den Bergen. Er fuhr hoch zum Chimney Rock, um mit Freunden zu zelten und den 4. Juli zu begießen. Am zweiten Abend fuhr er in die Stadt, um Biernachschub zu holen, kam dabei von der Straße ab und landete in der Hickory Nut Gorge. Er wurde aus dem Auto geschleudert, und der Wagen überrollte ihn. Als man ihn fand, hieß es, der Durchmesser seines Kopfes sei größer gewesen als der seines Ersatzreifens.«
Kate knüllte Tüten und Kartons zusammen, schmiss sie aufs Tablett und schob ihren Stuhl vom Tisch zurück.
»Die Ermittlungen starben mit Dwayne, könnte man sagen«, fuhr sie fort, während sie alles in den Abfallcontainer warf.
Wir verließen das Restaurant und traten auf eine kleine Veranda, wo ein uralter Schwarzer mit Yankees- Kappe uns mit dem üblichen »Hey« begrüßte. Er goss Blumen mit einem Gartenschlauch, und der Geruch von nasser Erde und Petunien vermischte sich mit dem Gestank von Frittierfett.
Die Hitze der Nachmittagssonne prallte vom Zement ab und wärmte mir Kopf und Schultern, während wir über den Parkplatz zu Kates Auto gingen. Als wir uns angeschnallt hatten, fragte ich: »Glaubst du, er war es?«
»Ich weiß es nicht, Tempe. Einige Sachen passen nicht zusammen.«
Ich wartete, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte.
»Dwayne Osprey hatte ein Alkoholproblem und war hundsgemein, aber die Tatsache, dass er in Shallotte lebte, bedeutete, dass irgendein Kaff seinen Dorftrottel verloren hatte. Ich meine, dieser Kerl war strohdumm. Es leuchtete mir einfach nicht ein, dass dieser Kerl seine Tochter umbringen, ihre Leiche in eine andere Stadt transportieren und dann seine Spuren völlig verwischen konnte. Er hatte einfach nicht die geistigen Voraussetzungen dazu. Außerdem war in dieser Woche viel los.«
»Was zum Beispiel?«
»Jedes Jahr gibt es Mitte Mai in Myrtle Beach eine riesige Motorrad-Rallye. Es ist ein Pflichttermin für die Hells Angels-Ortsgruppen hier im Süden, und viele Pagans lassen sich ebenfalls sehen. In dieser Woche wimmelte es in der Stadt von Bikern, alles – von Outlaws bis Rubbies.«
»Rubbies?« Im Montrealer Sinn konnte sie es nicht meinen, denn dort bedeutete der Ausdruck Weinsäufer.
»Rich Urban Bikers. Geldsäcke aus der Stadt, die gern Motorrad fahren. Und das war der Grund, warum ich zu dem Fall stieß. Mein Chef glaubte, dass es einen Bandenhintergrund geben könnte.«
»Gab es einen?«
»Wir haben nie was gefunden.«
»Und was glaubst du?«
»Mein Gott, Tempe, ich weiß auch nicht. Shallotte liegt genau am Highway 17 nach Myrtle Beach, und an der Straße gibt es dutzende von Motels und Fast-Food-Läden. Bei dem ganzen Verkehr in dieser Woche von und nach South Carolina hätte sie einfach an einen Psychopathen geraten können, der irgendwo für Hühnchen und Kekse Halt gemacht hatte.«
»Aber warum sie gleich umbringen?« Ich wusste, dass die Frage töricht war, kaum dass ich sie gestellt hatte.
»Leute werden erschossen, weil sie zu dicht auffahren, weil sie Rot tragen, wo die blaue Bande herumhängt, weil sie beim falschen Dealer einkaufen. Vielleicht wurde sie umgebracht, nur weil sie eine Brille trug.«
Oder ohne jeden Grund, wie Emily Anne Toussaint.
Zurück im SBI-Labor, breiteten wir den Inhalt der Akte aus und durchforsteten die Dokumente. Medizinische und zahnmedizinische Unterlagen. Telefonaufzeichnungen. Verhaftungsprotokolle. Transkriptionen von Verhören. Handschriftliche Notizen über Beschattungen.
Die Ermittler des SBI und der Polizei von Shallotte waren jeder Spur nachgegangen. Sogar die Nachbarn hatten sich beteiligt. Suchtrupps hatten Teiche, Flüsse und Wälder abgesucht. Alles ohne Ergebnis. Savannah Osprey hatte das Haus verlassen und war verschwunden.
Neun Monate nach Savannahs Verschwinden wurden in Myrtle Beach menschliche Überreste gefunden. Da der Coroner des Horry County eine Verbindung zum Osprey-Fall vermutete, kontaktierte er die Behörden von North Carolina und schickte die Knochen nach Chapel Hill. Im Bericht des Leichenbeschauers wurde eine mögliche Übereinstimmung festgestellt, eine eindeutige Identifizierung jedoch ausgeschlossen. Offiziell blieb Savannah Osprey spurlos verschwunden.
Der letzte Eintrag in der Akte stammte vom 10. Juli 1989. Nach Dwayne Ospreys Tod war seine Frau noch einmal verhört worden. Brenda blieb bei ihrer Geschichte, dass ihre Tochter durchgebrannt sei.
Kurz nach sieben waren wir mit der Akte fertig. Mein Rücken schmerzte vom gebückten Sitzen, und
Weitere Kostenlose Bücher