Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
meine Augen brannten vom mühsamen Entziffern winziger Maschinen- und schlechter Handschrift. Ich war müde, entmutigt, und ich hatte meine Maschine verpasst. Und außerdem so gut wie nichts Neues erfahren. Ein Seufzen von Kate sagte mir, dass sie sich ähnlich fühlte.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt suchen wir dir erst mal ein Zimmer, dann essen wir nett zu Abend und überlegen uns, wie wir weitermachen sollen.«
Klang wie eine Strategie.
Ich reservierte mir ein Zimmer in einem Red Roof Inn an der Interstate 40 und buchte einen Morgenflug. Dann rief ich Kit an, erhielt aber keine Antwort. Verwundert hinterließ ich ihm eine Nachricht mit der Nummer meines Handys. Danach packten Kate und ich unsere jeweiligen Knochen wieder ein und fuhren die Garner Road hoch zu ihrem Büro.
Das Gebäude, in dem das SBI untergebracht war, stand in starkem Kontrast zu seinem ultramodernen Forensiklabor. Letzteres ist ein Betonhochhaus, das Sterilität und Effizienz verströmt, die Zentrale dagegen ein nur zweistöckiger, vornehmer Backsteinbau mit cremefarbenem Stuck. Umgeben von gepflegten Rasenflächen und mit einer von stattlichen Eichen gesäumten Zufahrtsallee, passt es eher zu dem winzigen Antiquitätenladen direkt gegenüber als zu dem Megalithen weiter unten an der Straße.
Wir parkten an der Zufahrt, holten unsere Pakete aus dem Kofferraum und gingen zu dem Gebäude. Rechts lag eine kreisrunde Hecke mit einer Umrandung aus Ringelblumen und Stiefmütterchen. Drei Stangen erhoben sich in der Mitte der Anlage, wie die Masten eines Rahseglers. Ich hörte das Flattern von Gewebe und das Klirren von Metall, als ein uniformierter Beamter die letzte der Fahnen einholte. Er stand als dunkle Silhouette vor der halben Scheibe einer Sonne, die eben hinter dem Highway Patrol Training Centre versank.
Wir passierten eine Glastür, über der ein Schild mit der Aufschrift North Carolina Department of Justice, State Bureau of Investigation prangte. Wir wiesen uns aus und gingen in den zweiten Stock. Wieder einmal schlossen wir unsere Knochen weg, diesmal in einem Schrank in Kates kleinem Büro.
»Was möchtest zu essen?«
»Fleisch«, sagte ich ohne Zögern. »Dunkelrotes, mit echtem Fett marmoriertes Fleisch.«
»Aber wir hatten Cheeseburger zum Mittagessen.«
»Stimmt. Aber ich habe neulich eine Theorie über die Entwicklung vom Neandertaler zum modernen Menschen gelesen. Anscheinend war der Schlüsselfaktor für den Übergang der erhöhte Fettanteil in der Ernährung. Vielleicht bringen ein paar saftige Steaks unsere Denkprozesse wieder auf Touren.«
»Überzeugt.«
Das Rindfleisch erwies sich als gute Idee. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass wir uns nicht mehr mit unscharfer Schrift auf fotokopierten Unterlagen abquälen mussten. Als die Nachspeise kam, waren wir schon bei der zentralen Frage.
Die Knochen aus Montreal waren ohne jeden Zweifel Savannahs. Bei den hier gefundenen Überresten stand ein endgültiges Urteil noch aus. Reiste ein kränkliches sechzehnjähriges Mädchen mit schlechten Augen und einem schüchternen Wesen fünfzehnhundert Meilen nach Norden in ein anderes Land und starb dort? Oder wurden einige, aber nicht alle der Knochen eines toten Mädchens aus Carolina nach Montreal geschafft und dort vergraben?
Wenn Savannah in Montreal ums Leben gekommen war, gehörten die Knochen in Myrtle Beach nicht ihr.
Eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen musste.
Wenn die Knochen aus Myrtle Beach die von Savannah waren, dann war ein Teil des Skeletts bewegt worden.
Ich studierte die Fundortfotos und fand keine Ungereimtheiten. Die Verwesung erschien vereinbar mit einem Zeitraum von neun Monaten und einer Leichenliegezeit, die ausgehend vom Zeitpunkt von Savannahs Verschwinden berechnet war. Im Gegensatz zur Grube auf dem Gelände der Vipers gab es hier keine Anzeichen für eine Umbettung.
Daraus ergaben sich nun mehrere Möglichkeiten.
Savannah starb in Myrtle Beach.
Savannah starb woanders, und ihre Leiche wurde nach Myrtle Beach geschafft.
Savannahs Leiche wurde zerteilt, und Teile davon wurden entweder nach Myrtle Beach gebracht oder dort gelassen, und der Schädel und die Beinknochen wurden nach Kanada geschafft.
Aber wenn die Leiche mit Absicht zerteilt worden war, warum gab es an den Knochen dann keine Schnittspuren?
Die Schlüsselfrage blieb: Wie kam Savannah, entweder in Teilen oder als Ganzes, tot oder lebendig, nach Quebec?
»Glaubst du, dass man den Fall noch einmal aufrollen
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