Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
kniff sie zusammen, senkte den Kopf und drückte sich die Mittelfinger an die Schläfen. Ich stellte mir vor, wie das Blut hinter seiner Stirn rauschte.
»Ich liebe dich wie meinen eigenen Sohn, Kit. Das weißt du.«
Obwohl er mich nicht mehr ansah, sah ich an der Krümmung seines Rückgrats, wie unbehaglich ihm war.
»Ich vertraue dir. Auch das weißt du«, fuhr ich fort. »Aber ich will, dass du dir bewusst machst, was für Leute das sind. Sie schüren dein Interesse an Harleys, erschleichen sich dein Vertrauen, und dann verlangen sie einen kleinen Gefallen von dir, der Teil einer illegalen Aktion ist, nur dass du nichts davon weißt.«
Lange sagte keiner etwas. Draußen stritten sich Spatzen an einer Futterkugel, die ich im Garten aufgehängt hatte. Schließlich sagte er, ohne den Kopf zu heben: »Und in was stürzt du dich, Tante Tempe?«
»Wie bitte?«
»Du bist auf irgendeinem Trip.«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.
»Hallo aus dem Sündenpfuhl. Willkommen im Club.«
»Von was redest du denn?«
»Du spielst mit mir das alte Hütchen-Spiel. Zeigst mir das eine und versteckst das andere.«
»Was verstecke ich denn?«
Jetzt starrte er mich direkt an, und das Weiße seiner Augen war wie blutiges Wasser.
»Ich habe dieses Gespräch bei dem Abendessen letzte Woche verfolgt. Ich habe den Augapfel gesehen. Ich habe dein geheimnisvolles kleines Paket gesehen und wie du dich damit still und heimlich davongemacht hast. Du hast es selbst gesagt. Du hast in den letzten zwei Wochen mehr von dieser Scheiße gesehen als andere in ihrem ganzen Leben.«
Er wandte sich ab und drehte wieder seine Dose.
»Von mir willst du alles wissen, aber wenn ich dich frage, was du machst, fertigst du mich ab.«
»Kit, ich –«
»Und da ist noch mehr. Irgendwas ist mit diesem Ryan, das dich nervöser macht als einen Prediger bei der Steuerprüfung.«
Ich spürte, wie mein Mund sich öffnete, aber es kam kein Ton heraus.
»Du nimmst mich ins Fadenkreuz, weil du glaubst, dass ich mir Chemikalien in die Venen drücke, aber ich darf dich rein gar nichts fragen.«
Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen. Kit senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich waren ihm die Gefühle, die er eben herausgelassen hatte, peinlich. Die Sonne schien durch den Store hinter ihm, sodass ich seinen Kopf nur als Schattenriss sah.
»Ich will mich ja nicht beschweren, aber als ich aufgewachsen bin, warst du die Einzige, die zugehört hat. Harry war« – er hob die Hände und bewegte die Finger, als wollte er die richtigen Worte aus der Luft greifen – »na ja, Harry war eben Harry. Aber du hast zugehört. Und du hast mit mir geredet. Du warst die Einzige, die das getan hat. Aber jetzt behandelst du mich wie irgendeinen Blödmann.«
Er hatte nicht Unrecht. Wenn Kit Interesse zeigte, war ich abweisend und ausweichend, weil ich keine wichtigen Informationen preisgeben wollte. Ich lebe alleine und rede mit niemandem außerhalb des Instituts über meine Fälle. Wenn in privaten Situationen Fragen danach aufkommen, wehre ich die automatisch ab. Und heute verlangte ich aus heiterem Himmel von ihm einen Rechenschaftsbericht über seine Aktivitäten.
»Was du sagst, stimmt einerseits, andererseits ist es unfair. Ich habe dir einige Antworten verweigert, die ich dir hätte geben können, aber ich bin auch verpflichtet, nicht über offene Fälle oder laufende Ermittlungen zu reden. Das ist keine Frage persönlicher Diskretion, das verlangt mein Job von mir. Willst du wirklich wissen, was ich gerade mache?«
Er zuckte die Achseln. »Liegt an dir.«
Ich sah auf die Uhr.
»Warum duschst du dich nicht, während ich hier aufräume? Dann machen wir einen Spaziergang auf den Berg, und ich erkläre dir einiges. Okay?«
»Okay.« Kaum hörbar.
Aber meine Entscheidung war alles andere als okay.
25
Die Einheimischen nennen sie »Berg«, aber die kleine Erhebung ist himmelweit entfernt von den zerklüfteten Spitzen der Rockies oder den grünen Gipfeln meiner Carolina Smokies. Mont-Royal ist der Überrest eines uralten Vulkans, der in Äonen zu sanften Hügeln abgeschliffen wurde. Er liegt im Herzen der Stadt wie ein riesiger schlummernder Bär.
Auch wenn dem Berg Größe und geologische Dramatik fehlt, gibt er doch der Stadt Montreal seinen Namen. Er ist das Rückgrat, von dem aus die Stadt sich ausbreitet. Die McGill University liegt am Osthang und die vorwiegend Englisch sprechende Vorstadt Westmount direkt gegenüber. Die
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