Last Exit
die Gefahr einer Veröffentlichung dieses Materials vielleicht als Grund genügt, vertrauliche Informationen preiszugeben.
Kurz nach ein Uhr am Montagmorgen betraten sie Jane Chans merkwürdig leere Wohnung und entdeckten, womit sie schon gerechnet hatten: zahlreiche Andenken an Hongkong. Bilder, Briefe und E-Mails von Verwandten und Geschenkpakete, die sie von ihren Onkeln, Tanten und Cousins erhalten hatte. Neben Susan Jacksons Liebesaffäre war dies das bis dahin belastendste Material. Beide Frauen schienen anfällig für Erpressung zu sein.
Außerdem stellten sie fest, dass Jane Chan ein Verhältnis
mit der letzten Person auf der Liste hatte: Jim Pearson, der leitende Legislativberater, den Milo zusammen mit Max Grzybowski in Drummonds Büro kennengelernt hatte. Sie hatte Fotos, die beide gemeinsam unter anderem in verschiedenen Stadien der Entkleidung zeigten und bis zum Dezember zurückreichten. Jones trug ihre Einschätzung vor: »Wenn ich ein Maulwurf wäre, würde ich natürlich mit einem Vorgesetzten schlafen. Die einfachste Möglichkeit, an Geheimnisse ranzukommen.«
Das klang einleuchtend, und später bei Pearsons Wohnung in Alexandria entdeckten sie, dass Chan gerade mit ihm im Bett lag. Jones holte Kaffee im Starbucks für sich und Klein, und als Pearson und Chan strahlend wie das perfekte Liebespaar in seinen Mazda stiegen, um zur Arbeit zu fahren, rückten sie an.
Abgesehen von dem Sexgeruch im Schlafzimmer war Pearsons Wohnung so sauber wie die von Raymond Salamon, und sie konnten sich fast ausschließlich auf sein Notebook konzentrieren, das mit Zwei-Faktor-Authentifizierung und einhundertachtundzwanzigstelligen Passphrasen ausgestattet war. Doch Klein war in seiner Jugend Hacker gewesen und konnte nach eineinhalb Stunden Vollzug melden.
Seine Freude währte nur kurz. Die Sicherheitsmaßnahmen waren nur dazu da, Pearsons Privatleben, seine Fotos und Familien-E-Mails zu schützen – und seine Gedichte. Es waren mehr als zweihundert, von Haiku bis Terzine, in einem Dokument mit dem eher fantasielosen Namen VERSE. Die meisten drehten sich um Geschichte und Liebe. Nichts Belastendes. Auffallend war nur, was fehlte. Unter den Fotos von Freunden und Verwandten und sogar der chinesischen Exfreundin, die er zweimal in Shanghai besucht hatte, bewahrte Pearson keine Bilder
von sich mit Jane Chan auf, obwohl Chans früheste Aufnahmen schon drei Monate alt waren. »Der Mann hat offenbar Gelbfieber«, meinte Jones bei ihrem Telefonat mit Milo, »aber Chan hat keine Zukunft mit ihm.«
»Vielleicht will er bloß keine Hinweise auf die Beziehung mit ihr auf seinem Computer haben«, wandte Milo ein. »Wahrscheinlich sieht es Irwin nicht gern, wenn sich seine Berater näherkommen.«
Dieses Argument konnte Jones nicht überzeugen. »Nein, Mann. Er steht einfach nicht auf sie.«
Es war merkwürdig, aber letzten Endes auch nicht so merkwürdig, dass es eine Rolle gespielt oder Milo neue Erkenntnisse eröffnet hätte. So waren die zwei Frauen – Chan und Jackson – zwar die Hauptverdächtigen, aber eigentlich konnte es nach wie vor jeder von ihnen sein.
7
Den Montagvormittag hatte Oskar mit dem Ablegen von Hintergrundprüfungen verbracht; das war die einzige regelmäßig wiederkehrende Aufgabe seit Erikas transatlantischem Karriereselbstmord vor zwei Jahren. Manchmal erinnerte er sich an Franz Teufels Rat – Erika Schwartz hat ihre beste Zeit hinter sich, Oskar. Es hat keinen Sinn, als Zeuge beim Zusammenbruch dabei zu sein – und grübelte darüber nach, warum er bei einer Vorgesetzten geblieben war, deren Ende immer kurz bevorzustehen schien. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder, weil er Franz durchschaute: Er war nur Theodor Wertmüllers Schoßhündchen und hatte Angst, dass ihm ein Brocken vom Tisch seines Herrn entgehen könnte. Heute, beim Besuch in dem Büro, das sich Franz mit der gerade abwesenden Birgit teilte, war er geneigt, Teufel irgendwo zwischen diesen Extremen zu sehen.
»Hier sind die Prüfberichte von letzter Woche.«
Franz blickte nicht von seinem Notebook auf. »Es ist schon Montag, Oskar. Du bist ein Wochenende zu spät dran.«
»Ich war beschäftigt.«
»Tatsächlich?«
Mitunter bestritt Franz ganze Unterhaltungen, ohne aufzuschauen, daher ließ sich Oskar nicht vom Anblick des schütteren Haupthaars entmutigen. »Ist Wertmüller da?«
Erst als Franz den Kopf hob und durch diese Geste seine Aufmerksamkeit signalisierte, wurde Oskar nervös. »Er ist in einer
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