Last Exit
auf der Autobahn die Silhouette eines rauchenden Wachpostens ab. Vorn sprang der Motor des Lincoln an, aber Drummond traf keine Anstalten, hinüberzugehen. Er schwieg beharrlich, deshalb übernahm Milo die Initiative: »Er sagt, wir haben zusammen dreiundsechzig Touristen. Stimmt das?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Ich wusste, wie viele wir in Europa hatten, aber das war auch mein Spezialgebiet. Die Gesamtzahl hat mir Grainger nie verraten.«
»Ja, so viele haben wir angeblich.« Er hustete in seine Hand. »Das sind wirklich schlimme Nachrichten, aber ich will ihn noch weiter überprüfen, bevor ich alles stoppe.«
»Stoppen?«
»Ich möchte nicht, dass die Chinesen zum Spaß unsere Touristen abservieren. Wenn wir tatsächlich einen Maulwurf haben, gebe ich den Myrrhe-Code aus.«
Myrrhe war der allgemeine Rückruf, ein Befehl, der nur im äußersten Notfall gegeben wurde. »Sollten wir nicht auf eine zweite Quelle warten?«
»Zubenko ist die zweite Quelle.«
»Was?«
Drummond kaute auf irgendetwas herum, vielleicht auf seiner Zunge. »Sobald ich von seiner Aussage Wind bekommen hatte, habe ich mich umgehört. Chinesische Geheiminformationen über Doppelagenten. Es gab ein paar Anhaltspunkte, aber solche Gerüchte kursieren natürlich haufenweise. Sie klingen immer einleuchtend, bis man nach kompromittierendem Material fragt, dann löst sich das Ganze in Luft auf. Aber ein Bekannter im asiatischpazifischen Raum hat mir erzählt, dass sie jemanden beim Guoanbu haben. Eine Frau. Sie war zwei Jahre im Dritten Büro, das für Hongkong, Macau und Taiwan zuständig ist. Gute, solide Quelle für untergeordnete Informationen. Dann kam Ende Dezember ein Personalwechsel, und sie ist im Sechsten Büro gelandet, Spionageabwehr. Eine kleine Außenstelle am Stadtrand von Peking unter der Leitung eines gewissen Xin Zhu.«
»Soll das ein Witz sein?«
Drummond schüttelte den Kopf. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Zhu führt seine Abteilung nach Art der El Kaida: in Zellen. Jeder Einzelne arbeitet an einem Teilstück, völlig getrennt von der Person am nächsten Schreibtisch. Verstärkt wird diese Disziplin durch das Wissen – oder das Gerücht, spielt keine Rolle –, dass ein bestimmter Prozentsatz der Leute nichts anderes macht, als die anderen im Auftrag des Chefs auszuspionieren. Klingt nach einem ziemlich unangenehmen Arbeitsplatz.«
Milo schenkte sich die Bemerkung, dass ihm das Ganze bekannt vorkam. »Aber sie hat Zugang, oder? Wir könnten die Informationen zurückverfolgen, die über ihren Schreibtisch gehen.«
Wieder schüttelte Drummond den Kopf. »Bisher war sie mit nichts befasst, bei dem es um westliche Quellen
geht. Zhu setzt sie weiter auf ihrem Spezialgebiet ein, und das Beste, was sie liefern kann, ist ab und zu ein bisschen Material über Politiker aus Macau und Taiwan. Nur einmal ist sie über was gestolpert, das für uns beide interessant ist. Ein einziges Mal. Und das war einfach nur Glück. Und Lust. Zwei Wochen nach Beginn ihrer neuen Arbeit hat Zhus Sekretär An-ling Shen Interesse an ihr bekundet. An einem Abend hat sie sich von ihm ausführen lassen. Er ist eher unansehnlich – beleibt, kurzsichtig – und weiß, dass es nur einen Weg für ihn gibt, um attraktive junge Frauen ins Bett zu kriegen. Mit Geheimnissen. Also hat er ihr erzählt, dass sein Chef Xin Zhu eine wichtige Quelle bei der CIA hat.«
Milo wartete, aber Drummond fuhr nicht fort. »Und das ist alles?«
»Leider hat sie nicht mit ihm geschlafen. Ihr Führungsoffizier hat sie aufgefordert, es zu versuchen, aber sie hat ihre Grenzen. Man kann ihr auch keinen Vorwurf machen. Möglicherweise war das Ganze sowieso nur ein Test. Das vermutet mein Bekannter, und ich würde mich seiner Meinung anschließen, wenn da nicht Marko Zubenko wäre.« Seufzend stieß er eine weiße Atemwolke aus. »Aber leider existiert er, und jetzt sehe ich das ganz anders. Ich glaube es.«
»Sind das nicht ziemlich viele lose Zungen?«, wandte Milo ein. »Sowohl Zhu als auch sein Sekretär.«
»Menschen sind nun mal fehlerhaft.«
»Was haben wir über Xin Zhu?«
»An Informationen über den Guoanbu ist schwer ranzukommen. Er ist Oberst, so viel steht fest. Ende fünfzig. Verifizierter Aufenthalt in Deutschland in den Achtzigern. Keine Frau, soweit wir wissen, aber – bisher unbestätigten – Gerüchten zufolge hat er einen Sohn. Letzte Erwähnung
seines Namens 1996. Damals hat der Staatsrat einen Konsolidierungsplan verabschiedet, und es wurden
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