Last Exit
der Hotelbar Panorama genehmigte er sich einen Wodka Martini, dann schlenderte er mit einem Gratisexemplar der Herald Tribune hinüber ins CDQ, eine Glitzerbar, wo er in Ruhe zu Klängen trinken konnte, die von Charlotte Gainsbourgs neuestem Album mit dem Titel 5:55 stammten, wie ihm die hübsche Barfrau versicherte. Diese akustische Begegnung mit Serge Gainsbourgs Tochter war eine glückliche Fügung, denn bis letztes Jahr hatte er auf dem iPod ständig das Repertoire des Vaters abgespielt, das ihn zuverlässig in bessere Stimmung
versetzte. Aber die schlimmen Entwicklungen der letzten Monate waren auch an seiner musikalischen heilen Welt nicht spurlos vorübergegangen, und er hatte sich diese Songs seither nicht mehr angehört. Doch jetzt war er hier, mitten in der jungen Clubszene von Warschau, und lauschte der Tochter des Mannes, der ihm früher so viel Freude bereitet hatte. Er bestellte sich noch einen Drink und suchte sich eine Ecke mit genug Licht zum Lesen.
Der erste Artikel in der Tribune , der ihm ins Auge stach, brachte eine ausführliche Reuters-Meldung über die Entdeckung von Adriana Stanescus Leiche auf einer Straße nach Marseille. Genauere Einzelheiten wurden nicht genannt, und die Pressemitteilungen der Berliner Polizei deuteten an, dass Adriana von Menschenhändlern mit Verbindungen zur Russenmafia entführt und getötet worden war. Er stopfte sich ein Nicorette in den Mund und versuchte, das Zittern wegzukauen.
Dann fiel ihm auf der dritten Seite ein Foto von Nathan Irwin auf, dem republikanischen Senator von Minnesota.
Eigentlich war das Äußere des Senators nicht weiter bemerkenswert – er war mit einer Gruppe von Senatoren abgebildet, die sich wegen der seit mehreren Monaten schwelenden Immobilienkrise getroffen hatte –, aber der Anblick der selbstgefälligen Visage tat Milo nicht gut. Er orderte noch einen Martini und grübelte darüber nach, wie viel leerer sein Leben durch diesen Mann geworden war. Thomas Grainger war nicht nur sein Chef und Freund gewesen, sondern auch Stephanies Taufpate, der manchmal unerwartet mit Geschenken und einem strahlenden Lächeln bei ihnen vorbeischaute.
Trotz der großen geografischen Entfernung hatte ihn ein besonders herzliches Verhältnis mit Angela Yates verbunden. Sie war zu seiner Hochzeit angereist, und ihre
gemeinsame Geschichte reichte zurück bis in ihre enthusiastische Zeit als Anfänger bei der CIA. Sogar an dem verhängnisvollen Vormittag in Venedig, an dem sich Milo und Tina kennengelernt hatten, war sie dabei gewesen. Der Tag, an dem Stephanie zur Welt kam. Der 11. September 2001. Angela und Tom standen für viele wichtige Augenblicke in Milos Leben, und wegen Nathan Irwin waren sie jetzt beide tot.
Genau genommen hatten nur zwei Leute das Desaster im letzten Jahr überlebt: Irwin und Milo. Sie waren sich nie begegnet, aber sie wussten natürlich voneinander.
Töte die kleinen Stimmen.
Seine Mutter meldete sich wieder, die Frau, die er nur als seltene Besucherin in seiner Kindheit kennengelernt hatte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war sie manchmal nachts zu ihm gekommen, voller Angst vor Verfolgern, während sie und ihre marxistischen deutschen Genossen Angst und Schrecken in Europa verbreiteten. Wie ein Geist näherte sie sich ihrem Sohn und flüsterte ihm wichtige Lektionen zu, für die er zu jung war und an die er sich später nur selten halten sollte.
Hör auf die große Stimme. Nur sie wird immer ehrlich zu dir sein.
Was sagte die große Stimme jetzt?
Erst später, als er den Überblick über seine Martinis verloren hatte, gab er der Stimme nach und sah sich nach einer Telefonzelle der Telekomunikacja Polska um. Sein Zorn war zurückgekehrt. Er hatte zu lange betrunken über Ungerechtigkeiten nachgegrübelt, und als er die Złoty-Münzen in den Schlitz drückte, tat ihm die Daumenspitze weh. Er wählte nicht weniger heftig. Schon nach zwei Klingeltönen meldete sich der Alte mit zögernder Stimme. »Da?«
Auf Russisch fiel Milo über ihn her. »Du hattest wohl keine Lust, dich an unsere Vereinbarung zu halten.«
»Ich hab mich schon gefragt, wann du anrufst. Es ist nicht so, wie du denkst. Sie ist weggelaufen.«
»Wie schwer ist es, eine Halbwüchsige festzuhalten?« Milo schnaubte. »Wenn dir die Kleine entwischt ist, dann nur, weil du es gewollt hast.«
»Sie ist weggelaufen.«
»Scheißkerl. Sie ist weggelaufen, dann hast du sie aufgespürt und umgebracht.«
»Du bist betrunken, Milo.«
»Ja. Und wir zwei sind
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