Last Exit
Geschäft florierte (er hatte letztes Jahr eine Filiale am Ostrand von München eröffnet, die sein Sohn Ahmed leitete), wurden die Besuche seltener und der Gesichtsausdruck der Besucher verlegener. »So ist es nun mal«, räumte einer von ihnen ein, ein stiller deutscher Muslim. »Wenn man so nahe am Zentrum des Geschehens ist, muss man einfach damit rechnen.«
Aber im letzten halben Jahr hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Entweder waren sie endlich von seiner Unbescholtenheit überzeugt, oder es war ihnen gleichgültig. Und genau seit dieser Zeit stand er jeden Abend dieser beleibten, stummen Frau gegenüber, die auch jetzt wieder auf ihn zustapfte, den eisgekühlten Riesling in einer Hand, den Snickers-Riegel in der anderen. Wie üblich bedachte er sie mit einem freundlichen Lächeln, das sie wie üblich ignorierte.
Wenn er ganz ehrlich war, ging sie ihm mehr auf die Nerven als all die hartgesottenen Kerle vom Geheimdienst. Wenn er in ihr müdes, griesgrämiges Gesicht blickte, dessen Wangen mit einem fast männlich wirkenden Flaum bedeckt waren, konnte er sich nicht vorstellen, dass sie in ihrer Jugend einmal attraktiv gewesen sein sollte. Dazu noch eine Persönlichkeit, die nur ein unartikuliertes Knurren
hervorbrachte und die genetische Unfähigkeit zum Lächeln besaß. Nein, es war einfach undenkbar, dass diese Frau je von einem Mann geliebt worden war. Ihr Haar war um die Ohren geschoren wie bei einem kleinen Jungen, und sie hatte ungezupfte, unregelmäßige Augenbrauen. Sie war der Typ Frau, die in einem staubigen Haus voller Katzen und Katzenhaare wohnte und ihren Weißwein trank und an ihrem Schokoriegel samt Fingernägeln nagte, während sie stumpfsinnige deutsche Soapoperas genoss.
Sie setzte die Flasche und den Schokoriegel auf den Tresen und kramte in ihrer billigen Kunststoffhandtasche nach dem Geld.
»Guten Abend, gnädige Frau.« Lächelnd tippte Hasad die Waren ein.
Wie immer blieb ihr Knurren ausdruckslos, als sie einen kleinen Stapel Münzen hinlegte. Dann griff sie nach ihren Einkäufen.
Schnell räusperte er sich und hob die Hand. »Bitte, einen Moment. Sehen Sie …« Er deutete auf die Kassenanzeige. »Der Preis ist zehn fünf undsechzig. Das Snickers. Es kostet mehr.«
Sie hob den schwerfälligen Blick zur Kasse, dann wandte sie sich an ihn. »Seit wann ist das so?« Ihre Stimme war erstaunlich hoch und melodisch.
Er musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzujubeln. »Heute Morgen hat der Lieferant die Preiserhöhung bekanntgegeben. Muss ich auch erhöhen, bleibt mir nichts anderes übrig.«
»Oh.« Offenbar ein wenig verwirrt suchte sie in ihrer Tasche.
Obwohl er sich bisher alles ziemlich zutreffend ausgemalt hatte, hätte Hasad nie vorhersagen können, was nun folgte.
Die elektrische Eingangstür glitt auf, und ein junger, breitschultriger Mann im Anzug hastete atemlos herein. Hasad kannte ihn von den Überprüfungsaktionen. Einer von den gröberen Fragestellern, der seine Autorität mit etwa so viel Bescheidenheit zur Schau trug wie ein selbstherrlicher Polizist aus Ankara.
Instinktiv hob Hasad die Hände, aber der Mann bemerkte ihn gar nicht.
Stattdessen wandte er sich an die Frau. »Entschuldigen Sie die Störung, Frau Direktor Schwartz, wir haben da ein Problem.«
Im Gegensatz zu dem nass geschwitzten Besucher hatte es Frau Schwartz – nein, Frau Direktor Schwartz – überhaupt nicht eilig. Noch immer kramte sie nach Hasads fünf Cent. »Was für ein Problem?«
»Gap.«
Sie schaute zu dem Mann auf, der einen Kopf größer war, und blinzelte. Später überlegte Hasad, dass sie wohl verärgert war, doch im Augenblick musste er erst einmal seinen Schock verdauen. Die korpulente Alkoholikerin mit den vielen Katzen war die Chefin all dieser abgebrühten jungen Kerle.
Schließlich fragte sie: »Haben Sie fünf Cent?«
Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte sie sich an Hasad. Hätte der Ausdruck ihre Züge nicht auf so merkwürdig beunruhigende Weise entstellt, hätte er sich vielleicht sogar gefreut. »Tut mir leid, Herr al-Akir. Ich muss los. Aber der Herr hier wird die Differenz begleichen.« Mit dem Wein und dem Snickers ging sie hinaus auf den Parkplatz und kletterte auf den Rücksitz eines wartenden BMW.
Kurz darauf brauste der Wagen davon. Der Mann fuhr herum und starrte ihm entsetzt nach. Sie waren ohne ihn weggefahren. Hasad folgte seinem Blick.
Plötzlich knallte es, als der Mann ein Fünfcentstück auf den Tresen klatschte.
Hasad nahm das Geld kaum
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