Last Exit
Computer eingeschaltet. Erika setzte sich an ihren Schreibtisch und schob den Wust der heute eingegangenen
Papiere beiseite. Die meisten waren Ausdrucke von verzweifelten E-Mails aus der Belgrader Botschaft, deren Mitarbeiter um ihre Sicherheit fürchteten. Angesichts der ausgebrannten Ruine, die nach den Unruhen der letzten Nacht von der amerikanischen Botschaft übrig war, wollten sie das Haus schließen, aber sie hatte sich dagegen ausgesprochen. Trotz der Vergangenheit hatten die Serben keine Probleme mit dem heutigen Deutschland; das Land, das sie hassten, war Amerika, so wie ein armes Kind einen reichen Cousin nicht ausstehen kann, der ihm etwas weggenommen hat. In Wirklichkeit verbarg sich hinter diesem Hass eine alte Liebe. Für die Deutschen hingegen hegten sie keinerlei Gefühle, also gab es keinen Grund zur Sorge. Die Botschaft hatte nicht unbedingt erfreut auf ihre Erklärung reagiert.
Sie stöberte in der obersten Schublade herum und schob Stifte, Büroklammern und Gummiringe zur Seite. Dann gab sie auf und bat Oskar, ihr einen Korkenzieher und ein Glas zu besorgen. »Zwei, wenn Sie auch einen Schluck möchten.«
»Nein, danke.«
»Wie Sie wollen.«
Als er verschwunden war, wickelte sie das Snickers aus und ging die Reuters-Meldungen auf ihrem Browser durch. Die DST-Agentin Louise Dupont war nach einem Unfall tot in ihrem Auto gefunden worden. Sie hatte den Fehler gemacht, sich nicht anzuschnallen. Ein gutes Stück weiter vorn hatten französische Polizisten im Wald an der Straße Adriana Stanescus Leiche entdeckt.
Sie griff nach der Akte über Andrei und Rada Stanescu, die sich in den letzten Tagen merklich gefüllt hatte, als ihre Gesichter immer häufiger in Zeitungen und Magazinen erschienen. Ein Taxifahrer und eine Fabrikarbeiterin.
Vor zwei Jahren waren sie legal nach Deutschland gekommen, und zwar mit Unterstützung von Andreis Bruder Mihai. Dieser war Bäcker und in seiner Freizeit ehrenamtlich für den katholischen Wohlfahrtsverband Caritas tätig, der sich weltweit für Menschenrechte und gegen Armut einsetzte. In jüngster Zeit hatte die Caritas Druck auf die EU ausgeübt, um eine Lockerung der Einwanderungspolitik zu erreichen. Das war wahrscheinlich auch der Grund für Mihais ehrenamtliches Engagement. Laut einer zweiten Akte auf ihrem Schreibtisch war Adrianas Onkel nämlich in den letzten sechs Jahren zweimal verhaftet worden, weil er Menschen aus dem Osten illegal über die Grenze nach Deutschland geschleust hatte. Hier musste natürlich noch einmal genauer nachgehakt werden.
Nähere Einzelheiten über den Mord an dem Mädchen erfuhr sie durch ein Telefonat mit Paris. Der Einfachheit halber wandte sie sich gleich an Adrien Lambert, ihren Kontaktmann bei der DGSE, der Direction Générale de la Sécurité Extérieure. Obwohl der französische Auslandsnachrichtendienst für den Fall Stanescu nicht unmittelbar zuständig war, hatte Lambert alle wesentlichen Informationen in seinem Büro am Boulevard Mortier zusammengetragen und wartete schon auf ihren Anruf. Jemand hatte Adriana mit bloßen Händen das Genick gebrochen. Der Mörder wusste offenbar genau, wie er zupacken musste, und hatte die Sache mit einer einzigen Bewegung erledigt. Die Polizei von Gap hatte die Berghütte aufgespürt, in der man das Mädchen gefangen gehalten hatte. Die forensische Untersuchung lief noch, aber es gab wenig Hoffnung auf brauchbare Spuren, da alles professionell gereinigt worden war. Das Haus gehörte François Leclerc, einem Klempner aus Grenoble, der mit
seiner Familie Urlaub in Florida machte. Er hatte keine Ahnung, wer sich in der Hütte aufgehalten hatte.
»Und finden Sie das glaubwürdig?«, fragte Erika, als Oskar mit einem Plastikbecher und einem Korkenzieher zurückkehrte und daranging, die Flasche zu öffnen.
»Glaubwürdiger als Sie«, antwortete Lambert, »wenn Sie mir erzählen wollen, dass Sie nichts über die Sache wissen.«
»Wirklich, Adrien. Wir tappen völlig im Dunkeln.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, nippte sie an dem Wein, den ihr Oskar eingeschenkt hatte. Als sie von ihrem Snickers abbiss, starrte sie durch ihren Assistenten hindurch, als wäre er gar nicht anwesend. Rasch ging sie noch einmal die ihr bekannten Punkte durch. Die Tochter von Einwanderern war verschleppt worden, kein Versuch, Lösegeld zu erpressen. Angesichts der um sich greifenden Ausländerfeindlichkeit in Deutschland war so eine Entführung nicht undenkbar, genauso wenig wie das Ausbleiben einer
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