Last Exit
Lösegeldforderung. Dagegen war es völlig undenkbar, dass das Mädchen eine ganze Woche lang unversehrt überstanden hatte.
Das Verbrechen hatte also weder ein sexuelles noch ein ausländerfeindliches Motiv. Das Mädchen hatte die Flucht aus eigenen Kräften geschafft, und irgendjemandem war ihr Tod so wichtig gewesen, dass er dabei auch über die Leiche einer französischen Agentin ging.
Oder war alles nur Zufall? War Louise Dupont bei einem Unfall ums Leben gekommen, während das Mädchen, verfolgt von einem Pech, wie man es nur aus der griechischen Mythologie kannte, einem Psychopathen aus der Gegend in die Hände gefallen war? Sie bezweifelte es, aber aufgrund der Fakten war es nicht völlig auszuschließen.
Wenn nicht, musste es einer ihrer drei Bewacher getan haben. Der Deutsche, der Spanier oder der Russe. Aber warum hatten sie sie dann eine Woche lang nicht behelligt ? Hieß das, dass Dritte in die Sache verwickelt waren? Nichts war sicher.
So kam sie nicht weiter.
Möglicherweise hatte das Ganze überhaupt nichts mit den Stanescus zu tun. Wenn Adriana zum Beispiel Zeugin eines Mordes geworden war und die Täter sie entführt hatten, damit sie nichts verraten konnte, was dann? Vielleicht hatte es einen Streit gegeben, was sie mit ihr machen sollten, ein Zerwürfnis zwischen Kriminellen. Einer lässt sie frei, und ein anderer heftet sich ihr an die Fersen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Aber was war dann mit dem Unbekannten, Ende dreißig, dunkles Haar, der Adriana verschleppt hatte, ehe sie von den anderen übernommen wurde?
Entnervt von den kleinen Augen, die ihn seit Minuten blind fixierten, rief Oskar: »Sie tun es schon wieder.«
Sie fuhr zusammen. »Was denn?«
»Dieses Starren. Das treibt mich in den Wahnsinn.«
Sie blinzelte ein letztes Mal, dann senkte sie lächelnd den Blick auf den Schreibtisch. »Tut mir leid, Oskar. Ich gelobe Besserung. Aber vielleicht können Sie inzwischen Gerhard bitten, dass er zu Herrn al-Akir fährt. Er kann jemanden mitnehmen, der meinen Wagen zurückbringt und …« Sie schaute Oskar an. »Und wir brauchen noch eine Flasche Riesling. Das wird die ganze Nacht dauern.«
Sie nahm einen neuen Anlauf. Zunächst rief sie noch einmal Hans Kuhn an, um ihn nach Überwachungskameras in der Gegend der Lina-Morgenstern-Schule zu fragen, wo Adriana verschwunden war.
»Meinst du, auf diese Idee bin ich im Lauf der letzten Woche noch nicht gekommen, Erika?«
»War nur eine Frage.«
Er seufzte. »Letztes Jahr hatten wir hier mehrere Beschwerden. Die Türken dachten, dass wir es auf sie abgesehen haben, daher kam von oben die Anweisung, einen Teil der Kameras abzubauen. An der Ecke Mehringdamm und Gneisenaustraße steht noch eine, aber die wurde vor einem Monat von irgendwelchen Jugendlichen kaputt gemacht. Repariert wird sie erst, wenn die Stadt ihren nächsten Haushalt verabschiedet hat.«
»Auf diesen Straßen ist viel los. Es muss doch Zeugen gegeben haben.«
»Halb fünf Uhr nachmittags – es war so belebt, dass niemand was bemerkt hat. Außerdem trauen die keinem Bullen über den Weg.«
»Verstehe. Danke, Hans.«
Oskar kehrte mit ihrem Autoschlüssel und einer zweiten Flasche Riesling zurück und fragte, ob sie ihn noch brauchte. Nein. Seine Gesellschaft hätte sie nur abgelenkt, außerdem wollte er offensichtlich nach Hause zu seiner schwedischen Freundin, die er vor kurzem kennengelernt hatte.
Nachdem er sich verabschiedet hatte, machte sie sich an die Lektüre. Damit wandte sie eine Technik an, über die sie gestolpert und die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war seit der Zeit, als sie ihren Blick über die undurchlässige Grenze der Deutschen Demokratischen Republik gerichtet hatte. Was dort geschah, konnte sie nicht durch unmittelbare Beobachtung, sondern nur durch Schlussfolgerungen ergründen. Ernteberichte, Kriminalstatistik, Zugfahrpläne, Exportbewegungen und die mitunter panischen Nachrichten von einsamen Informanten,
die auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gestrandet waren. Unter solchen Voraussetzungen kann man nur wenig unbesehen glauben, und Erika hatte gelernt, Erkenntnisse aus den feinen Sprüngen zwischen den fragwürdigen Fakten zu gewinnen, die ihr auf den Schreibtisch flatterten. Sie hatte gelernt, ihre Gedanken in konzentrischen Kreisen langsam vom eigentlichen Gegenstand wegdriften zu lassen. Auf diese Weise konnte sie zweifelhafte Zusammenhänge herstellen und sie gegen andere zweifelhafte Zusammenhänge abwägen, um
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