Last Exit
allmählich ein Mosaik entstehen zu lassen, dessen Steinchen ausgetauscht oder übermalt werden konnten, bis schließlich so viele Steinchen ihren Platz gefunden hatten, dass das Gesamtbild zu erahnen war.
Sie brauchte die Bemerkungen der Bürowitzbolde nicht zu hören, um zuzugeben, dass sie sich diese Technik angeeignet hatte, um sich das Leben etwas leichter zu machen. Schon in den siebziger Jahren hatte sie zu viele Pfunde mit sich herumgeschleppt, und seit dem Fall der Mauer war sie stark übergewichtig. Je mehr die Schreibtischexistenz ihr Leben bestimmte, desto mehr Raum beanspruchte ihr Körper, bis Lesen praktisch die einzige Arbeitsmethode war, die ihr noch zu Gebote stand.
Nachdem sie die für den Fall unmittelbar relevanten Akten durchgesehen hatte, machte sie die ersten, kleinen Sprünge weg vom Gegenstand. Zunächst fiel ihr ein, dass Moldawien als ärmstes Land Europas in einem aktuellen Bericht der Weltbank auf der Liste der Immigrantenzahlungen ganz oben rangierte, eine zweifelhafte Ehre, da das Land damit über 36 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts von Auswanderern bezog, die ihren Verwandten zu Hause Geld schickten. Das bedeutete, dass Menschen das wertvollste Exportgut Moldawiens waren.
Sandten die Stanescus Geld nach Hause? Sie machte sich eine Notiz, um das später zu überprüfen.
Mittlerweile war die moldawische Mafia vor allem damit beschäftigt, deutsche Autos zu stehlen, die in der Heimat verkauft wurden, und Frauen nach Westen zu schmuggeln, was noch viel einträglicher war. Zwar gab es keinen Anlass, eine Verbindung zwischen den Stanescus und diesen Kriminellen anzunehmen, aber sie durfte sich in ihrer Untersuchung auch nicht durch falsche moralische Rücksichten behindern lassen. Also suchte sie neben den BND-Akten zum Thema neuere Artikel im Spiegel , Stern und Focus heraus, um ihre Kenntnisse über dieses kleine, notleidende Land aufzufrischen.
Ein Großteil seiner Geschichte war ihr bereits vertraut. Im Jahr 1940 hatte Stalin den Landstrich Bessarabien von Rumänien abgetrennt und ihn als Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion angegliedert. Während seiner Herrschaft blieben Deportationen von Bessarabiern in den Ural, nach Kasachstan und Sibirien an der Tagesordnung. Ende der vierziger Jahre breitete sich, hauptsächlich verursacht durch die sowjetische Lebensmittelrationierung, im ganzen Land eine Hungersnot aus, und in den Fünfzigern wurden die Deportierten und Toten durch Russen und Ukrainer ersetzt. Um den Wunsch nach einer Wiedervereinigung mit Rumänien zu unterdrücken, propagierten sowjetische Wissenschaftler die Unabhängigkeit der moldawischen Sprache, die im Gegensatz zum Rumänischen kyrillisch geschrieben wurde. Das erinnerte Erika an Serben und Kroaten, die aus politischen Gründen darauf beharrten, dass ihre Sprachen völlig verschieden waren, während sie für den Rest der Welt ziemlich gleich klangen.
Trotz der Regierungsproteste aus der Hauptstadt Chisinau
blieben nach der Unabhängigkeit 1991 russische Truppen in der abtrünnigen Provinz Transnistrien jenseits des Dnjestr, um die importierten russischen Einwohner zu »schützen«. Diese Transnistrische Moldauische Republik erreichte in einem kurzen Bürgerkrieg ihre Autonomie. Ihre Souveränität wurde nur von ihr selbst anerkannt; die internationale Gemeinschaft betrachtete sie nach wie vor als Gebiet Moldawiens, allerdings auch als eines, das von Kriminellen beherrscht wurde und das sein BIP mit Drogen, Waffen und Fleisch erwirtschaftete.
Aber die Stanescus stammten nicht aus Transnistrien, sondern aus dem Norden des Landes.
Sie wandte sich wieder Onkel Mihai zu. Er war 2002 an der österreichischen Grenze als Fahrer eines Wagens verhaftet worden, in dem hinten eine moldawische Familie – ein Ehepaar mit zwei Kindern – versteckt war. Der Staatsanwalt drang auf eine Abschiebung, aber Mihai hatte zu dem Zeitpunkt bereits die deutsche Staatsbürgerschaft. So konnte der Vertreter der Anklage nur sechs Monate Haft in Moabit und eine Geldstrafe von zehntausend Euro durchsetzen.
Eigentlich hätte man annehmen sollen, dass Mihais Schleuseraktivitäten damit beendet waren, aber 2005 wurde er erneut erwischt, als er mit einem jungen Paar über die tschechische Grenze nach Deutschland fuhr. Wieder handelte es sich um Moldawier, und in diesem Fall stellte sich heraus, dass sie ihm nur siebenhundert Euro gezahlt hatten – ein Betrag, der kaum das Benzin und die Bestechungsgelder für die
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