Last Exit
Hände aus. »Lassen wir die Ereignisse in Zürich erst mal beiseite. Bleiben wir bei Adriana. Meine Vermutung ist, dass Sie den Auftrag hatten,
sie zu töten. Vielleicht sollten Sie sie entführen, und danach wurde der Befehl abgeändert – das spielt im Moment keine Rolle. Entscheidend ist, dass Sie wie jeder Auftragskiller wahrscheinlich nicht mehr wussten. Name des Opfers, möglicherweise die Art der Entsorgung. Einfache Vorgaben, die Sie eigenständig umsetzen konnten, solange nur der Befehl ausgeführt wurde.«
Milo starrte sie mit leerem Blick an. »Das ist doch Irrsinn. Wenn meine Botschaft rausfindet …«
»Bitte.« Sie hob die Hand. »Wie bereits erwähnt interessiert mich das Warum des Mordes. Nicht das Wie. Und wer es war, wird sich hoffentlich herausstellen, sobald ich den Grund kenne.« Sie blinzelte verwirrt. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Milo antwortete nicht, und Oskar sprang ein. »Das haben Sie, Erika.«
»Gut.« Sie legte die Hände in den Schoß, und als sie Krümel bemerkte, wischte sie sie weg. »Inzwischen habe ich eingesehen, Mr. Weaver, dass Sie mir keine so große Hilfe sein werden wie ursprünglich erhofft. Ich bezweifle sogar, dass Sie etwas über das Mädchen wissen, das Sie ermordet haben. Deswegen möchte ich Ihnen von ihr erzählen. « Sie lächelte. »Verstehen Sie mich nicht falsch – ich glaube nicht, dass sich ein ausgebuffter Routinier wie Sie von einer kleinen Geschichte das Herz erweichen lässt. Aber ich finde es richtig, wenn ein Mensch die volle Tragweite seines Handelns kennt. Klingt das jetzt hochtrabend ?«
»Keineswegs«, sekundierte Oskar.
Irgendetwas da oben hatte sie dazu bewogen, es mit diesem neuen Ansatz zu probieren. Vielleicht hatte sie nur geraten, oder es war ein durch viele Verhöre entwickelter Spürsinn. Auf jeden Fall hatte sie beschlossen, Milo zu
erzählen, was er so dringend wie nichts anderes erfahren wollte: die Geschichte hinter der Ermordung Adriana Stanescus. Daher sagte er: »Klingt sehr vernünftig.«
»Wunderbar«, konstatierte Erika. »Ich musste ziemlich graben, aber ich hatte Hilfe von Adrianas Onkel Mihai. Sie müssen verstehen, dass er anders ist als wir. Er hat nicht diese Apathie … ist das das richtige Wort?« Da keine Antwort kam, fuhr sie fort. »Mihai hat nicht diese Apathie wie wir vom Geheimdienst – die Apathie gegenüber Menschen, die unser Beruf erfordert. Nein, Mihai Stanescu ist äußerst sentimental, besonders was seine tote Nichte betrifft. Er begreift nicht wie Sie und ich, dass brave kleine Mädchen und Jungen manchmal verschwinden müssen, wenn es wichtige Umstände erfordern. Denn trotz des Gewäschs von Priestern und Politikern über den Wert kleiner Kinder, Tatsache ist doch, dass sich die Welt nach ihrem Tod nicht verändert. Der Dollarkurs bleibt gleich. Die kommenden Stars von American Idol verlieren nichts von ihrer Popularität. Die Läden bieten weiter ein volles Sortiment. Und schließlich verschwinden ständig irgendwelche Kinder.«
Milo hielt an seiner nichtssagenden Miene fest, aber er fragte sich, worauf sie hinauswollte. Das hier war nicht nur eine Geschichte.
»Nehmen wir zum Beispiel die sogenannte Tragödie des Sexhandels. Jede Woche verschwinden Tausende von Frauen und Kindern – und da dürfen wir uns nichts vormachen: manchmal sind sie erst sechs Monate alt – und landen in Bordellen, wo sie als Sexsklavinnen verkauft oder für Internetseiten gefilmt werden. Sie werden missbraucht, vergewaltigt, gefoltert und manchmal sogar getötet – alles zum Vergnügen einer bestimmten demografischen Gruppe. Aber ändert sich dadurch der Kurs des
Euro?« Sie schüttelte den Kopf, und ihr beunruhigendes Lächeln erschien wieder. »Natürlich nicht. Leute wie Sie und ich verstehen das.«
Was konnte sie in Milo Weavers Gesicht lesen? Sehr wenig. Entweder war er wirklich ein Profi – den Begriff »Tourist« wollte sie fürs Erste nicht verwenden –, oder er hatte keine Ahnung, worauf ihr Monolog abzielte. Vielleicht wusste er wirklich nichts über Adrianas Vergangenheit.
»Schauen wir uns einen typischen Fall an. Ein Mädchen, das etwas durchgemacht hat, was die Medien sicher als Tragödie bezeichnen würden, wenn sie davon Wind bekämen. Aber von einer echten Tragödie kann man doch eigentlich nur sprechen, wenn Tausende von Menschen umkommen und wenn ihr Tod den Untergang von Finanzinstituten heraufbeschwört – das ist eine Tragödie. Dieser Fall dagegen ist eher … ich weiß nicht.
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