Last Exit
selbst wenn die Antwort falsch war. Verhöre sind ein Prozess, sie existieren in der Zeit und schreiten voran. Wenn sie zum Stillstand kommen, setzt die Fäulnis ein. Entscheidungen sind der einzige Hebel, um sie voranzutreiben. Entweder arbeitete Weaver noch für die CIA oder nicht. Wenn nicht, handelte er auf eigene Rechnung und hatte seine Selbstständigkeit unter verschiedenen Namen auf Kunstraub, Entführung und Mord ausgedehnt.
Und wenn er doch für die CIA arbeitete?
In diesem Fall stellte sich die Frage, was für ein Agent an einem derartigen Spektrum illegaler Aktivitäten beteiligt sein konnte. Was war das für ein Allrounder, der in der Buchführung der Company nicht auftauchte und ohne festen Wohnsitz in ganz Europa herumgeschickt wurde? Es gab nur eine Antwort, und die war schwer zu verdauen.
Schon Anfang der Siebziger zu Beginn ihrer Arbeit für den BND, als ein Viertel des Landes unter einem anderen Namen und Regime lebte, waren ihr gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen. Mehrere ostdeutsche Agenten, die sich in Bonn, Westberlin oder Hamburg angesiedelt hatten, hatten unter ungeklärten Umständen ihr Leben verloren. Soeben hatten sie noch gut überwacht vom Nachrichtendienst der Bundesrepublik gelebt, dann waren sie auf einmal tot. Meistens handelte es sich um Agenten, deren Bedeutung für die Amerikaner bekannt war, und wenn Erika etwas über ihr Schicksal herausfinden wollte, stieß sie jedes Mal auf einen Tatort, der keinerlei Anhaltspunkte lieferte. Sie sprach dieses Phänomen gegenüber ihrem Chef an, dessen Karriere später mit der Enthüllung seiner Nazivergangenheit endete. Damals genoss er jedoch großes Ansehen.
Nach einem flüchtigen Blick auf ihre Notizen knurrte er nur: »Touristen.«
»Das waren keine Touristen.«
»Natürlich nicht, Erika.« Er zündete seine Pfeife an und erzählte ihr von einer Legende, die sich in dem Jahrzehnt nach dem Fall Berlins immer weiter verbreitet hatte: Es gab eine Geheimsekte amerikanischer Agenten, die auf jeden normalen menschlichen Komfort verzichteten. Keine feste Identität, kein Wohnsitz, kein moralisches Zentrum jenseits der anstehenden Arbeit. Sie erinnerte sich noch an seine geseufzte Randbemerkung: »Was Hitler mit solchen Leuten erreicht hätte!«
Sie hießen Touristen, weil sie mit der Welt so verbunden waren wie ein Tourist mit einem von ihm besuchten Land: überhaupt nicht. Sie tauchten auf und verschwanden wieder. Als ihr Chef diese Männer – und selten auch Frauen – in ehrfürchtigem Tonfall beschrieb, ärgerte sich Erika über seine Leichtgläubigkeit.
»Das ist doch lächerlich. So was nennt man Desinformation. Ein offenes Geheimnis macht am meisten Angst.«
»Das habe ich früher auch geglaubt.« Und dann erzählte er ihr eine Geschichte. Berlin, 1961. Am zwölften August, einem Samstag, entdeckten er und ein Kollege an der Grenze einen toten Amerikaner mit einer Minox und handschriftlichen Notizen. Die Kamera enthielt Aufnahmen eines Gartenfests, zu dessen Gästen unter anderem der Staatsratsvorsitzende der DDR Walter Ulbricht zählte. In den Notizen stand, dass die Anwesenden sich versammelt hatten, um die Anordnung zur Schließung der Grenze und zum Bau einer Mauer zu unterzeichnen. »Wir haben es also schon mehrere Stunden vorher gewusst. Noch in der Nacht haben wir unsere Kollegen von der CIA informiert, aber sie haben sich mehr für die Leiche ihres Agenten interessiert.«
»Warum?«
»Weil sie keine Ahnung hatten, wer er war. Da ihn niemand identifizieren konnte, wurde beschlossen, zunächst nicht tätig zu werden. Schließlich hätte es ein bolschewistischer Trick sein können. Dass es nicht so war, wurde uns klar, als um Mitternacht die Grenze dichtgemacht wurde. Die Launen der Geschichte sind schon faszinierend, finden Sie nicht?«
»Und was hat das mit diesen Touristen zu tun?«
»Na ja, wir wussten nicht, was wir mit der Leiche anfangen sollten. Die Amerikaner haben weiter behauptet, dass er nicht zu ihnen gehört. Aber von uns war der Mann bestimmt nicht. Also haben wir Fotos kursieren lassen. Und kurz darauf hatten wir gleich fünf Namen: zwei russische, einen englischen, einen amerikanischen und einen deutschen. Dann taucht plötzlich der Chef der Londoner CIA-Basis auf und will die Leiche doch
noch haben. Hat uns den Toten förmlich aus den Fingern gerissen, und jedes Mal, wenn wir nachgefragt haben, kam die Antwort: Von wem reden Sie überhaupt? Der Mann, der die Leiche mitgenommen hat, war Frank Wisner,
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