Last Exit
Ein kurzes Flackern im moralischen Universum? Etwas in der Richtung, obwohl es für Leute wie uns kein moralisches Universum gibt.«
Milo sah kurz aus, als wollte er antworten, doch er blieb stumm. Oskar starrte auf seine Schläfe. Heinrich und Gustav schienen von ihrem Vortrag wie gebannt.
»Ja, die Geschichte also. Sie fängt in Moldawien an, wie Sie sich bestimmt schon gedacht haben. Adriana war damals erst elf.«
Milo hörte zu. Ohne es zu wollen, achtete er auf jedes Wort, jede Abschweifung und, schlimmer noch, die äußerlichen Details. Erika Schwartz beschrieb das Muster auf dem Schal, den Adriana trug, als sie in den Bus nach Westen stieg, und obwohl ihm klar war, dass sie diese Einzelheit
wahrscheinlich gar nicht kennen konnte, begleitete sie ihn auf dem ganzen Weg bis zu der Lagerhalle in St. Pauli, wo die ersten Vergewaltigungen stattfanden, und zu der Berliner Wohnung, wo sie jeden Abend viele Male missbraucht wurde. Der Schal war mit paisleyförmigen Blumen dekoriert. Das rührselige Wort »Tränen« hatte sie nicht bemüht, aber das musste sie auch nicht. Er wusste, dass Paisleys aussahen wie die Tropfen Salzwasser, die sich im Augenwinkel eines Kindes bilden, und dieses Bild ließ ihn nicht mehr los.
Denn letztlich stand Milo Weaver nicht außerhalb des moralischen Universums, auch wenn ihn die Company noch so gut ausgebildet hatte. Früher, als junger Tourist, hatte er ohne Empathie gelebt. Das hatte sich für ihn in den ersten sieben Jahren von 1994 bis 2001 als großer Vorteil erwiesen. Nur so hatte er sich über Wasser halten können. Doch nachdem er ausgestiegen war, um eine Familie zu gründen, konnte er sich nicht mehr der Erkenntnis entziehen, dass sein Universum immer mehr von Moral durchdrungen wurde: wenn er seine kleine Tochter wusch, deren Fettpölsterchen unter seiner Hand bebten, später, wenn er sie zur Schule brachte und ihren umständlichen Geschichten lauschte, wenn er Curry für seine Frau kochte, wenn er am Wochenende staubsaugte. Allein das Hinaustragen des Mülls an jedem zweiten Tag hatte ein moralisches Verantwortungsgefühl in ihm gestärkt, das er erst Schritt für Schritt erlernen musste. Der Übergang war ihm nicht leichtgefallen; in diesen ersten Jahren machte er oft Fehler, doch selbst aus der Geduld seiner Frau konnte er viel lernen.
Und als ihn Owen Mendel bat, in den Tourismus zurückzukehren, war es schon zu spät. Tourismus war etwas für die Jungen, die Unbelasteten. Für die Vaterlosen und
Kinderlosen. Das alles war Milo nicht mehr, und deswegen wusste er von Anfang an, dass er letztlich zum Scheitern verurteilt war.
Trotzdem blieb er wachsam. Ihm war nicht entgangen, warum ihm Erika Schwartz diese Geschichte erzählte und warum sie sie auf ihre ganz besondere Weise erzählte. Sie wusste, dass er ein Kind hatte. Sie kannte seine Schwachstelle.
Aber selbst diese Einsicht half ihm kaum. Als ihm das volle Ausmaß von Adriana Stanescus tragischem Schicksal klarwurde, stockte ihm immer wieder der Atem, und sein Magen schien zu kollabieren. Er spürte sogar, wie sich paisleyförmiges Salzwasser anbahnte, aber er zwang seine Augen dazu, trocken zu bleiben, und sagte nichts. Das war wichtig. Um sich abzureagieren, lenkte er seine Emotionen in eine andere Richtung: auf die Mädchenhändler. Immer wenn seine Augen feucht zu werden drohten, schlug er im Kopf gestaltlose Schergen bewusstlos. Doch ihre Gestaltlosigkeit schmälerte die Wirkung. Also kramte er einen gewissen Roman Ugrimow aus seinem Gedächtnis hervor, einen russischen Geschäftsmann, der seine minderjährige, schwangere Geliebte getötet hatte, nur um einem Argument Nachdruck zu verleihen. Da hatte er endlich jemanden, der real war, jemanden, den er kannte. Also stürzte er sich mit bloßen Händen auf den Alten und zerquetschte ihn langsam, wie er es in Wirklichkeit nie getan hatte.
Aber reichte das? Nein, die Bedeutung von Adrianas Geschichte erschöpfte sich nicht darin, dass es einige geile Böcke gab. Eigentlich waren es weniger Menschen, die ihr zum Verhängnis geworden waren, als geheime Organisationen, deren Fluch seit ihrer Geburt über ihr gehangen hatte. Ihr Elend war praktisch vorherbestimmt.
Fast hätte er aufgegeben. Schier unwiderstehlich spürte er den Drang, die Hände hochzureißen und Erika Schwartz alles zu beichten, was sie wissen wollte, um dann in Schande nach New York zurückzukehren. Auch eine Möglichkeit, aus dem Tourismus auszusteigen. Er konnte Drummond seine Schwäche
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