Last Lecture - die Lehren meines Lebens
Großprojekte abseits der ausgetretenen Pfade, auf die sie sich stürzen konnten. Gemeinsam übernahmen sie zum Beispiel die finanzielle Garantie für ein Schülerwohnheim im ländlichen Thailand, das es fünfzig Mädchen ermöglichen sollte, die Schule zu Ende zu bringen und nicht in die Prostitution abzurutschen.
Meine Mutter war immer außerordentlich karitativ, und mein Vater wäre jederzeit bereit gewesen, alles herzugeben und selbst in Sack und Asche zu gehen, anstatt in dem Vorort zu wohnen, in dem der Rest der Familie leben wollte. In diesem Sinne halte ich meinen Vater für den »christlichsten« Menschen, dem ich jemals begegnet bin. Außerdem war er ein unverdrossener Kämpfer für soziale Gleichheit. Anders als meine Mutter war er jedoch nicht so leicht bereit, sich in die Arme eines organisierten Glaubens zu begeben (wir waren Presbyterianer). Ihm ging es mehr um die großen Ideale. Gleichheit war für ihn das erstrebenswerteste aller Ziele. Er setzte große Erwartungen in die Gesellschaft und blieb trotz der vielen Enttäuschungen, die er dabei erlebte, immer ein glühender Optimist.
Im Alter von dreiundachtzig Jahren wurde bei meinem Vater Leukämie diagnostiziert. Als er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde, traf er Vorkehrungen, um seinen Körper der medizinischen Forschung zu überlassen. Das Projekt in Thailand versorgte er mit genügend Geld, um seinen Fortbestand für mindestens noch sechs weitere Jahre zu garantieren.
Vielen Leuten, die meine Last Lecture hörten, blieb vor allem ein Foto im Gedächtnis, das ich auf die Videowand klickte. Es zeigt mich im Pyjama, den Kopf nachdenklich aufgestützt, und vermittelt wohl wie kein zweites, dass ich ein Kind mit großen Träumen war.
Die Holzlatte quer vor meinem Körper ist die Vorderseite meines Stockbetts. Mein Vater, ein ziemlich guter Hobbytischler, hatte es mir gebaut. Das Lächeln auf diesem Kindergesicht, die Holzlatte, der Ausdruck der Augen - alles erinnert mich daran, dass ich die Elternlotterie gewonnen hatte.
Meine Kinder werden zwar eine liebende Mutter haben, und ich weiß, dass Jai sie ganz wunderbar auf das Leben vorbereiten wird, aber sie werden ihren Vater nicht bei sich haben. Ich habe das akzeptiert, aber es tut weh.
Ich würde gerne glauben, dass mein Vater einverstanden wäre mit der Art und Weise, wie ich diese letzten Monate meines Lebens verbringe. Er hätte mir geraten, die Dinge für Jai, so weit es geht, in Ordnung zu bringen und so viel Zeit wie nur möglich mit meinen Kindern zu verbringen - genau das tue ich. Und ich weiß, er hätte es sinnvoll gefunden, mit der Familie nach Virginia zu übersiedeln.
Außerdem bin ich sicher, dass mich mein Vater daran erinnern würde, dass Kinder, mehr noch als alles andere, wissen müssen, wie sehr ihre Eltern sie lieben. Und damit sie das wissen können, müssen nicht unbedingt beide Elternteile noch am Leben sein.
5
Der Lift im Farmhaus
Meine Fantasie ging schon immer leicht mit mir durch. Ungefähr zur Hälfte meiner Highschool-Zeit hatte ich das dringende Bedürfnis, ein paar der Gedanken, die mir im Kopf herumwirbelten, auf die Wände meines Zimmers zu malen.
Ich bat meine Eltern um Erlaubnis.
»Ich möchte Sachen auf meine Wände malen«, sagte ich.
»Was zum Beispiel?«, fragten sie.
»Sachen, die mir etwas bedeuten«, erklärte ich. »Sachen, die ich cool finde. Ihr werdet’s ja sehen.«
Diese Erklärung genügte meinem Vater. Auch das war so großartig an ihm. Er ermunterte zu Kreativität, indem er einen einfach nur anlächelte. Er liebte es, wenn sich der Funke der Begeisterung in ein Feuerwerk verwandelte. Und er verstand mein Verlangen, mich auf unkonventionelle Weise auszudrücken. Er hielt mein Malabenteuer für eine grandiose Idee.
Meine Mutter war weniger begeistert von dieser Eskapade, gab aber ziemlich schnell nach, als sie sah, wie aufgeregt ich war. Außerdem wusste sie, dass Dad bei solchen Auseinandersetzungen üblicherweise den Sieg davontrug, also konnte sie sich ebenso gut gleich friedlich ergeben.
Zwei Tage lang bemalte ich mithilfe meiner Schwester Tammy und meines Freundes Jack Sheriff die Wände meines Zimmers. Mein Vater saß im Wohnzimmer, las die Zeitung und wartete geduldig, dass ihm das Kunstwerk enthüllt würde. Meine Mutter patrouillierte im Flur und war total nervös. Immer wieder schlich sie sich an die Tür und versuchte, einen Blick zu erhaschen. Doch wir hatten uns verbarrikadiert. Wie sagt man doch beim Film?
Weitere Kostenlose Bücher