Lauf, Jane, Lauf!
»Ach, was wißt ihr jungen Leute schon vom Alter? Ihr seid ja alle überzeugt, daß ihr ewig jung bleibt.« Er lachte. »Ich wollte, ich könnte in fünfzig Jahren hier sein und zuschauen, wie ihr euch abstrampelt. Da gäb’s bestimmt was zu lachen. Aber jetzt hab ich Hunger.«
»Ich werde Carole bitten, Ihnen etwas zu machen.««
»Warum überläßt du ihm das nicht selbst?« Caroles Stimme schnitt messerscharf durch die warme Luft. J. R., der sie begleitete, begann zu bellen. »Ach, halt die Klappe, J. R.«
»Der verdammte Köter. Den kannst du auch gleich in ein Heim stecken«, sagte Fred Cobb.
»Im Kühlschrank liegt noch Käse, wenn du den willst, Vater.«
»Was für welcher denn?«
»Die Sorte, die du magst.«
»Na gut«, sagte er gnädig, entschuldigte sich umständlich und ging ins Haus.
Carole wandte sich wieder Jane zu.
Jane stand immer noch an das Spalier gedrückt, und die Rosendornen bohrten sich durch Michaels Hemd in ihr Fleisch. Sie stellte sich vor, daß ihr ganzer Rücken mit kleinen Blutflecken gesprenkelt sei, sah die winzigen roten Punkte wachsen und ineinander fließen, bis sie einen riesigen roten Tropfen bildeten, der das Hemd durchtränkte.
»Ich muß wissen«, sagte sie ruhig zu Carole, »was an dem Tag passierte, an dem ich verschwunden bin.«
»Komm mit rein«, forderte Carole sie auf. »Da können wir ungestört reden.«
»Wie fühlst du dich?« fragte Carole, als sie im Wohnzimmer waren.
»Ich weiß selbst nicht«, antwortete Jane aufrichtig, während sie sich aufmerksam in dem weißgestrichenen Zimmer mit dem blauen Teppichboden umsah. Niemand war hinter den Möbelstücken versteckt. Nur ein paar Staubflusen schauten unter einem alten Ohrensessel hervor. Eine große Kristallvase mit verwelkten Iris stand auf dem Couchtisch, dessen Glasplatte verschmiert war.
»Meine Putzfrau hat gekündigt«, sagte Carole, die Janes Blicke bemerkte. »Irgendwie bringe ich nicht die Energie auf, mir eine neue zu suchen. Kannst du vielleicht eine empfehlen?«
Jane dachte an Paula, die im Bad eingesperrt war, und fragte sich, ob Carole das irgendwie mitbekommen hatte. Sie schüttelte
den Kopf. »Ich muß dir so vieles sagen, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
»Ich wüßte nicht, ob wir einander überhaupt etwas zu sagen haben.«
»Ich weiß, du glaubst, Daniel und ich hätten was miteinander gehabt...«
»Und du willst mir weismachen, das sei nicht wahr. Verschone mich. Daniel hat schon angerufen.«
»Daniel hat angerufen? Wann denn?«
»Gerade eben. Er sagte, er hätte einen sehr merkwürdigen Anruf von dir bekommen. Du hättest ihn gefragt, ob ihr beide was miteinander gehabt hättet. Da er von deinem äußerst labilen Zustand keine Ahnung hat«, fuhr sie sarkastisch fort, »hatte er große Mühe, deine Frage zu verstehen. Ich habe ihm gesagt, daß ich mir zwar vorstellen kann, wie kränkend es für ihn sein muß, seine Liebeskünste so schnell vergessen zu sehen, daß ich es aber dennoch für das Beste halte, wenn wir alle uns diese schmutzige Geschichte möglichst schnell aus dem Kopf schlagen, wie es dir selbst ja so hervorragend gelungen ist.«
»Aber Daniel und ich hatten kein Verhältnis.«
»Ja, das hat er mir auch gesagt.«
»Und du glaubst ihm nicht?«
»Weshalb sollte ich diesem Mann noch irgendwas glauben?«
»Weshalb solltest du Michael glauben?« konterte Jane. »Er war doch derjenige, der dir erzählt hat, Daniel und ich hätten eine Affäre gehabt, nicht wahr?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Das spielt deshalb eine Rolle, weil Michael der Lügner ist.«
»Weshalb sollte Michael mich anlügen?«
»Er hat uns alle angelogen.«
»Ich frage noch einmal, warum?«
Jane schüttelte den Kopf. Ihr war schwindlig. Sie ließ sich in den cremefarbenen Ohrensessel fallen. »Um einen Keil zwischen
uns zu treiben. Um uns zu entzweien. Um zu verhindern, daß ich der Wahrheit auf die Spur komme.«
Carole drehte sich halb herum, als wolle sie aus dem Zimmer gehen, setzte sich dann aber auf das Sofa Jane gegenüber. »Welcher Wahrheit?«
»Das weiß ich nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Unmittelbar vor meinem Verschwinden muß etwas geschehen sein. Es muß so schlimm gewesen sein, daß ich nur damit fertig werden konnte, indem ich es vergaß. Indem ich einfach mein ganzes bisheriges Leben vergaß.« Sie sah zur Zimmerdecke hinauf. »Carole, wie ist meine Mutter ums Leben gekommen?«
»Was? Moment mal, Jane. Das geht mir zu schnell. Da komm ich
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