Lauf, Jane, Lauf!
nicht mehr mit.««
»Wie ist meine Mutter ums Leben gekommen?«
Carole atmete einmal tief durch und hob die Hände, als hätte sie beschlossen, nachzugeben und Jane ihren Willen zu lassen. »Sie ist letztes Jahr bei einem Autounfall verunglückt.«
»Lüg mich nicht an«, sagte Jane scharf.
Carole war schockiert. »Ich bin doch hier nicht diejenige, die lügt, Jane. Herrgott noch mal, warum sollte ich dir nicht die Wahrheit sagen?«
»Meine Mutter ist also bei einem Autounfall umgekommen?«
»Ich dachte, Michael hätte dir das alles erzählt.«
»Ja, das hat er getan.«
»Aber du glaubst ihm nicht?«
»Du glaubst Daniel ja auch nicht«, erinnerte Jane sie.
»Das ist was anderes.«
»Wo ist der Unfall passiert?«
»Nicht weit von hier. Deine Mutter wollte nach Boston fahren. Irgendein Verrückter hat ein Stoppschild mißachtet und ist voll in sie reingeknallt. Du warst vollkommen fertig. Du hast sehr an deiner Mutter gehangen.«
»Wer war noch im Wagen?«
»Was soll das heißen?«
»Wer hat den Wagen gefahren?«
»Deine Mutter. Ursprünglich wolltest du mit ihr nach Boston fahren, soviel ich weiß, aber dann mußtest du zu irgendeiner Veranstaltung in Emilys Schule und konntest nicht.«
»Ich bin nicht gefahren?«
»Nein. Ich sagte doch gerade, du mußtest zu einer Veranstaltung in die Schule.«
»Michael hat mir aber gesagt, ich hätte am Steuer gesessen.«
»Was?! Sei nicht albern, Jane. Weshalb sollte Michael so etwas sagen?«
»Er sagte, ich hätte am Steuer gesessen, und Emily wäre auch im Wagen gewesen.«
»Emily?«
»Er hat gesagt, sie wäre tot. Sie wäre in meinen Armen gestorben.«
»Jane, das ist doch verrückt!«
»Aber meine Tochter ist gar nicht tot, nicht wahr, Carole?«
»Natürlich nicht. Natürlich ist sie nicht tot.«
»Wo ist sie, Carole?«
Carole stand auf. Jane bemerkte einen neuen Ausdruck in ihren Augen, den sie noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Es war der gleiche Ausdruck, der ihr bei Anne Halloren-Gimblet aufgefallen war. Es war Furcht.
Sie stand auf und versperrte Carole den Weg aus dem Zimmer.
»Wo ist sie, Carole?« fragte sie wieder.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Wo hält Michael Emily versteckt?«
»Jane, hör dir doch mal selbst zu. Was du da redest, ist ja total
verrückt. Daniel hat schon so was erzählt, daß du glaubst, Michael hielte Emily versteckt. Aber warum sollte Michael das Kind verstecken? So wie ich dich jetzt erlebte, kann ich nur sagen, wenn er sie versteckt hält, dann zu ihrem eigenen Besten, um sie zu schützen.«
»Nein. Um sich selbst zu schützen.«
»Jane...«
»Mir hat er gesagt, sie wäre tot, Carole. Er hat gesagt, ich hätte sie getötet, sie wäre in meinen Armen gestorben. Wie erklärst du dir das? Versucht er vielleicht, auch mich zu schützen?«
»Ja, er möchte dich schützen, Jane. Nur darum geht es ihm.«
»Indem er mich belügt, will er mich schützen? Indem er mir erzählt, meine Tochter sei tot und ich sei schuld daran? Mein Gott, Carole, glaubst du denn, ich habe das alles erfunden?«
»Ich glaube, du hast Wahnvorstellungen...«
»Wahnvorstellungen?«
»Ich denke, du selbst glaubst wirklich alles, was du sagst...«
»Wahnvorstellungen! Das Wort hast du von Michael, nicht wahr? Wahnvorstellungen!« Sie spie das Wort aus, als wäre es Gift. »Michael hat dir erzählt, ich hätte Wahnvorstellungen, stimmt’s?«
»Jane...«
»Ich will wissen, ob es stimmt?« Ein Blick in Caroles Gesicht genügte ihr, um zu sehen, daß sie recht hatte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Er hat sich wirklich nach allen Seiten abgesichert. Er hat alle davon überzeugt, daß ich verrückt bin, daß ich nach dem Tod meiner Mutter eine Art Nervenzusammenbruch erlitten habe. Meinen Freunden erschien ich zwar ganz normal, aber zu Hause sah es völlig anders aus. Da hatte ich Wutausbrüche am laufenden Band; ich schmiß Sachen durch die Gegend; ich war gewalttätig.«
Jane bemühte sich, alles, was sie erfahren hatte, in einen Zusammenhang zu bringen. »Und es klingt ja auch alles ganz einleuchtend,
weil jeder weiß, wie furchtbar jähzornig ich bin. Jeder kann ein Lied davon singen und hat eine entsprechende Story parast. Und wie soll ich mich gegen ihn wehren, wenn mir die Betäubungsmittel zu den Ohren rauskommen und ich morgens kaum noch aus dem Bett finde und vor lauter Sabbern kaum noch ein Wort herausbringe und außerdem so deprimiert bin, daß
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