Lauf, Jane, Lauf!
Blicke auf sich gerichtet. Ich bin unsichtbar, stellte sie fest und klammerte sich an Kinderphantasien, um sich zu beruhigen. Wenn ich sie nicht sehen kann, können auch sie mich nicht sehen, wiederholte sie immer wieder, während sie sich Caroles Haus näherte. Sie duckte sich hinter ein schwarzes Auto, das auf der Straße stand, für den Fall, daß sie doch nicht unsichtbar sein sollte.
Ihr eigenes Haus wirkte still. Die Haustür war geschlossen. An keinem der Fenster bewegte sich etwas. In der Einfahrt stand kein Auto. Alles sah friedlich, ja, fast freundlich aus.
Zwei Grundstücke von Caroles Haus entfernt, begann Jane zu laufen. Als sie die Garage erreichte, rannte sie geduckt nach hinten in Caroles Garten. Ihr Herz raste, ihr Magen flatterte wie ein wildgewordener Schmetterling. Sie drückte sich an die Hauswand, den Rücken an die Holzleisten gepreßt, und ließ sich schließlich neben einem Spalier voll pfirsichfarbener Rosen zu Boden fallen.
Und was würde sie zu Carole sagen? Daß Michael sie belogen, sie beide aufs gemeinste belogen hatte, daß sie niemals ein Verhältnis mit Daniel gehabt hatte, daß sie wissen mußte, was unmittelbar vor ihrem Verschwinden geschehen war, daß sie wissen mußte, wo Michael Emily versteckt hielt.
»Wer sind Sie, und was tun Sie in meinem Garten?«
Die Stimme war scharf und durchdringend. Jane blickte auf. Caroles Vater stand vor ihr. Seine bleichen dünnen Beine sahen unter rosaroten Bermudashorts hervor, die wahrscheinlich einmal Carole gehört hatten.
»Ich bin’s, Jane Whittaker«, flüsterte sie und wurde sich bewußt, daß sie seinen Namen gar nicht kannte. »Ihre Nachbarin.«
»Was tun Sie da in meinen Rosenbüschen?«
Jane schob sich an dem Spalier hoch, bis sie beinahe aufrecht stand. Sie fühlte sich von etwas festgehalten und drehte den Kopf in der Erwartung, Michael oder Paula zu sehen, entdeckte statt dessen jedoch, daß ein Dorn sich in Michaels Hemd verfangen hatte. Vorsichtig machte sie es los, stach sich dennoch in den Finger und sah fasziniert zu, wie sich an ihrer Fingerspitze ein kleiner, kreisrunder Blutstropfen bildete.
»Haben Sie sich weh getan?«
»Nein, nein.«
»Ich bin Fred Cobb«, sagte der alte Mann, als wären sie gerade dabei, sich miteinander bekannt zu machen. Er gab ihr die Hand, wobei er sorgfältig vermied, das Blut an ihrem Finger zu berühren. »Wollen Sie mir was verkaufen?«
Jane sah sich prüfend um, um festzustellen, ob sie beobachtet wurden. »Nein, Mr. Cobb«, sagte sie dann. »Ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich möchte gern mit Carole sprechen.«
»Worüber?«
»Über meine Tochter Emily.«
»Kenn ich nicht.«
»Sie ist sieben Jahre alt. Ein sehr hübsches kleines Mädchen mit langem braunem Haar. Sie haben sie sicher öfter im Garten spielen sehen. Ihre Enkelkinder sind manchmal zum Babysitten zu uns gekommen.«
»Wie heißt sie gleich wieder?«
»Emily.«
»Kenn ich nicht«, wiederholte er, und Jane fragte sich, weshalb sie ihre kostbare Zeit mit ihm vergeudete.
»Dann wissen Sie wohl auch nicht zufällig, wo sie jetzt ist«, meinte Jane versuchsweise.
»Oh, ich weiß, wo sie ist.«
»Wirklich?«
»Klar. Sie ist im Haus.«
»Emily ist im Haus?«
»Emily? Ich kenne keine Emily. Carole ist im Haus.«
»Ach so.« Jane seufzte. »Carole ist im Haus?«
»Wo soll sie sonst sein? Was tun Sie hier? Wollen Sie was verkaufen?«
»Mr. Cobb«, begann Jane und trat näher zu ihm, worauf er sofort einige Schritte zurückwich, »können Sie mir sagen, ob sonst noch jemand im Haus ist? Hat Carole vielleicht Besuch?«
»Carole hat fast überhaupt keinen Besuch mehr, seit Daniel weg ist. Sie hat nie viele Freunde gehabt.«
Jane nickte nur, es lag auf der Hand, daß von Fred Cobb keine Hilfe zu erwarten war.
»Ich hab Hunger«, sagte der Alte abrupt. »Ich werd Carole sagen, sie soll mir das Mittagessen machen.« Aber gleich schüttelte er den Kopf. »Nein, dann behauptet sie nur, ich hätte gerade erst gefrühstückt.«
»Ich kann sie gern für Sie fragen, Mr. Cobb.« Jane sah, wie sein Mund sich zu einem breiten Lächeln verzog.
»Wirklich? Das ist sehr nett von Ihnen. Carole haßt es, wenn ich was von ihr will. Sie wird immer wütend. Und manchmal droht sie mir damit, mich in ein Heim zu stecken.«
»Das meint sie bestimmt nicht so, Mr. Cobb.«
»Doch, doch. Aber mir ist das egal. Soll sie mich doch in ein Heim stecken, wenn sie das will. Mir ist das wurscht.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
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