Lauf, Jane, Lauf!
die noch immer offene Haustür in den Garten hinaus. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr geschlossen wurde, und fühlte Annes Blick in ihrem Rücken, als sie zu Paulas Wagen lief und einstieg.
Sie mußte Emily finden. Michael hielt sie irgendwo versteckt. Aber wo? In einem Ferienlager? Im Sommerhaus seiner Eltern? Bei Freunden? Wo? Und warum? Warum, um Gottes willen?
An wen konnte sie sich wenden? Wen konnte sie fragen?
Sie hatte Freunde: die Tanenbaums, Diane Brewster, Lorraine Appleby, Eve und Ross McDermott und andere. Sie wußte ihre Namen, aber weder ihre Telefonnummern noch ihre Adressen. Sie herauszufinden, war zu umständlich. Soviel Zeit hatte sie
nicht. Paula würde es früher oder später schaffen, aus dem Badezimmer herauszukommen. Sie würde Michael informieren, und er würde dafür sorgen, daß Emily für sie unauffindbar blieb.
Es gab nur eine Person, die ihr vielleicht sagen konnte, wo Emily versteckt war. Das wurde ihr klar, während sie mit dem widerspenstigen Motor kämpfte, der nicht anspringen wollte. Und diese Person haßte Jane wie die Pest, weil sie überzeugt war, daß sie mit ihrem Mann ein Verhältnis gehabt hatte.
Sie mußte mit Carole sprechen.
»Ich finde dich, Emily«, murmelte Jane mit zusammengebissenen Zähnen und drehte wieder den Zündschlüssel. »Ich finde dich«, sagte sie entschlossen, als der Motor endlich ansprang und sie aufs Gas trat.
26
Paulas Wagen blieb ihr einmal vor einem Stoplicht stehen und ein zweites Mal vor einer roten Ampel, ehe er in der Mitte der Glenmore Terrace, noch ein ganzes Stück von der Forest Street entfernt, endgültig den Dienst verweigerte. »Nein, bitte nicht jetzt. Laß mich jetzt nicht im Stich. Ich brauch dich doch. Du mußt mir helfen, mein Kind zu finden.«
Aber das Auto reagierte nicht auf ihre flehentlichen Bitten. Sie drehte immer wieder den Zündschlüssel und trat aufs Gas, bis es anfing, durchdringend nach Benzin zu riechen und ihr klar war, daß der Motor endgültig abgesoffen war und nun überhaupt nicht mehr anspringen würde.
»Ach, verdammtes Ding!« Sie schlug mit der Faust auf das Steuerrad, dann sprang sie aus dem Wagen und ließ ihn einfach stehen, wo er stand.
Ein Autofahrer hinter ihr hupte wütend, aber Jane lief weiter
in Richtung Forest Street, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Wahrscheinlich war es sogar gut, daß sie nicht in Paulas Wagen vorfuhr. Zu Fuß war sie nicht so leicht zu entdecken. Vorausgesetzt natürlich, daß überhaupt jemand nach ihr Ausschau hielt. War es Paula gelungen, sich aus dem Badezimmer zu befreien? Hatte sie vielleicht schon bei Michael angerufen und ihn aus dem OP holen lassen? Lauerten sie ihr vielleicht jetzt irgendwo auf?
Jane überquerte die Straße unter der nun schon heißen Sonne und bog in die Forest Street ein. Sie konnte sich zwischen den Häusern hindurchschleichen, überlegte sie, und auf diese Weise in den Garten hinter Caroles Haus gelangen, ohne gesehen zu werden. Das mußte doch klappen. Ihr wurde plötzlich übel. An den dicken Stamm einer alten Trauerweide gestützt, übergab sie sich und spie den Kaffee wieder aus, den sie bei Anne Halloren-Gimblet in sich hinein g eschüttet hatte.
Ihre Beine wurden zu Gummi, und sie glitt am Stamm des Baumes hinunter ins Gras. Nein, nein! Nicht jetzt. Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen. Ich bin doch schon so nahe dran. So nahe dran, mein Kind wiederzufinden und die Wahrheit aufzudecken. Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen.
Sie stellte sich vor, daß Michael und Paula die Straße zu ihr heruntergelaufen kämen. Die Ärmste, hörte sie Michael zu einer Gruppe erschrockener Passanten sagen. Sie ist verrückt, wissen Sie. Ja, sie hat den Verstand verloren, bestätigte Paula. Sie fühlte die Hände auf ihren Armen, fühlte, wie sie in eine Zwangsjacke eingebunden und zu einem anonymen weißen Wagen geschleppt wurde, der sie fortbringen sollte. Sie sah ihre kleine Tochter für immer verschwinden.
Mit neuer Willenskraft rappelte sich Jane in die Höhe. Sie achtete nicht auf die Magenkrämpfe, das Kribbeln in Armen und Beinen, die Taubheit, die ihren Nacken hinaufkroch. Wenn hier jemand aus dem Fenster schaut, dachte sie, hält er mich wahrscheinlich für betrunken. Der arme Dr. Whittaker! Sie hörte
förmlich das bedauernde Zungenschnalzen. So ein Kreuz mit dieser Frau!
Beobachtete sie jemand? Sie hielt nach einem neugierigen Gesicht hinter vorsichtig geteilten Vorhängen Ausschau, aber sie sah niemanden, spürte keine fremden
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