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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Helft mir doch«, flüsterte sie in ihre Hände. »Bitte, hilf mir doch einer.«
    Reflexartig blickte sie auf ihr Handgelenk, um nach der Zeit zu sehen, und stellte fest, daß es fast fünf war. Seit beinahe einer Stunde irrte sie herum und hatte in der ganzen Zeit nichts gesehen, das ihr auch nur den geringsten Hinweis darauf geben konnte, wer sie war. Nichts erschien ihr vertraut. Niemand hatte sie erkannt.
    Sie erreichte die Charles Street, eine bunte Vielfalt von Läden und Geschäften, das Lebensmittelgeschäft neben dem Juwelier, Haushaltswaren Tür an Tür mit Kunst und Antiquitäten. War sie auf dem Weg hierher gewesen, um ihre Milch und ihre Eier einzukaufen?
    Ein Mann drängte sich an ihr vorbei und lächelte, aber es war das Lächeln, das am Ende eines anstrengenden Tages eine matte Seele mit der anderen tauscht, und sagte nichts von Bekanntschaft. Dennoch war sie versucht, den Mann festzuhalten und ihm ein Zeichen des Erkennens abzubetteln, wenn nötig eine Identität aus ihm herauszuschütteln. Aber sie ließ ihn unbelästigt vorübergehen, und die Gelegenheit war versäumt. Aber sie konnte ja auch nicht einfach wildfremde Menschen auf der Straße angehen. Die würden womöglich die Polizei holen und sie einsperren lassen. Schon wieder so eine Verrückte auf dem Selbstfindungstrip.
    War sie vielleicht wirklich verrückt? Gerade aus einer Anstalt
ausgebrochen? Aus dem Gefängnis? War sie auf der Flucht? Sie lachte über so viel Melodramatik. Wenn sie nicht schon verrückt gewesen war, bevor das alles angefangen hatte, würde sie es ganz bestimmt werden, ehe es vorüber war. Würde es überhaupt vorübergehen?
    Sie stieß die Tür zu einem Tante-Emma-Laden auf und trat ein. Wenn sie in diesem Viertel wohnte, war es gut möglich, daß sie öfter hier einkaufte; oft genug hoffentlich, um dem Inhaber bekannt zu sein. Langsam ging sie zwischen den Regalen mit den Konserven auf ihn zu.
    Der Inhaber, ein junger Mann mit Pferdeschwanz und schmalem Mund, war mit mehreren Kunden beschäftigt, von denen jeder behauptete, zuerst dagewesen zu sein. Sie stellte sich hinten an, hoffte auf einen Blick des Erkennens, wünschte sich inbrünstig ein freundliches »Hallo, Mrs. Smith. Ich komme sofort«. Aber sie hörte nur eine fremde Stimme, die eine Packung Zigaretten verlangte, und sah nur den mageren Rücken des Verkäufers, als dieser sich umdrehte, um die Zigaretten aus dem Regal zu holen.
    Über die linke Schulter warf sie einen Blick auf eine Reihe unwahrscheinlich schöner junger Frauen, die sie von den Titelblättern diverser Zeitschriften anlächelten. Sie ließ sich hinüberziehen zum Zeitungsständer und starrte wie gebannt auf ein Gesicht von feuriger Schönheit. >Cindy Crawford< stand in leuchtend pinkfarbenen Lettern neben dem Gesicht. >Supermodel<. Kein Zweifel, wer sie war.
    Sie zog das Heft heraus und studierte das Gesicht des Models: braune Augen, braunes Haar, links von den leicht geöffneten Lippen ein Leberfleck, der sie von den Hunderten gleichermaßen hübscher Gesichter ringsum unterschied. So schön, dachte sie. So jung. So selbstsicher.
    Wieder wurde ihr bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, wie sie selbst aussah, keine Vorstellung, wie alt sie war. Sie umklammerte
die Zeitschrift so fest, daß ihre Ränder sich nach innen bogen. »Hey, Lady!« Sie drehte sich um und sah den warnend wakkelnden Zeigefinger des Ladeninhabers. »Die Zeitschriften nur rausnehmen, wenn Sie sie kaufen wollen.«
    Sie nickte schuldbewußt wie ein Kind, das beim Einstecken eines Kaugummis ertappt worden ist, und drückte die Zeitschrift an die Brust, als wäre sie ihr einziger Halt.
    »Also, kaufen Sie sie oder nicht?« fragte der junge Mann. Die anderen Kunden waren gegangen, sie waren allein im Laden. Jetzt bot sich ihr die beste, vielleicht einzige Gelegenheit zur Konfrontation.
    Sie stürzte zur Theke und sah, wie er hastig zurückwich. »Kennen Sie mich?« fragte sie, mit Mühe die Panik in ihrer Stimme unterdrückend.
    Er musterte sie konzentriert, mit zusammengekniffenen Augen. Dann neigte er den Kopf zur Seite, so daß ihm der Pferdeschwanz auf die rechte Schulter hing, und ein Lächeln kroch ihm über den schmalen Mund und krümmte ihn leicht. »Sind Sie wer Berühmtes?« fragte er.
    Sie sagte nichts, wartete mit angehaltenem Atem.
    Er mißverstand ihr Schweigen als Bestätigung. »Ja, ich hab schon gehört, daß sie hier in Boston zur Zeit ein paar Filme machen«, sagte er und ging ein paar Schritte nach

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