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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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ungezupften Augenbrauen. Die Nase war klein, und die Wimpern waren von Tusche verklebt. Vielleicht, dachte sie, hatte sie sich
die Augen gerieben und dabei die Tusche verschmiert. Vielleicht hatte sie geweint.
    Mit einem Ruck straffte sie die Schultern, sprang auf und rannte aus dem Park. Ohne auf das Rotlicht zu achten, lief sie durch den Verkehr zu einer Bank an der Ecke Beacon Street. Sie klopfte so kräftig an die Glastür, daß sie die Aufmerksamkeit des Filialleiters auf sich zog, eines vorzeitig kahlen jungen Mannes, dessen Kopf im Verhältnis zu seinem Körper um einige Nummern zu groß schien. Sie hielt ihn für den Filialleiter, weil er einen Anzug mit Krawatte trug und das einzige männliche Wesen in einem Raum voller Frauen war.
    »Tut mir leid«, sagte er freundlich, wobei er die Tür gerade so weit aufzog, daß er seine große Nase durch den Spalt stecken konnte, »aber es ist nach vier. Wir schließen um drei.«
    »Wissen Sie, wer ich bin?« fragte sie verzweifelt, erstaunt über die Frage, die sie gar nicht hatte stellen wollen.
    Das Stirnrunzeln des Mannes verriet, daß er ihre Frage als eine Forderung nach Sonderbehandlung auslegte. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er, einen Anflug unmißverständlicher Schärfe in der Stimme. »Wir sind gern bereit, Sie zu bedienen, wenn Sie morgen wiederkommen.« Dann lächelte er ein abschließendes Lächeln, das jede weitere Diskussion verbat, und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.
    Sie blieb an der Glastür stehen und starrte in den Schalterraum, bis die Frauen drüben zu tuscheln begannen. Wußten sie, wer sie war? Wenn ja, so wurden sie ihres Anblicks bald müde und wandten sich, von ihrem wild gestikulierenden Chef angetrieben, wieder ihren Computern und Bilanzen zu. Sie schien für sie nicht mehr zu existieren.
    Sie atmete ein paarmal tief durch, dann ging sie die Beacon Street hinunter zur River Street, zurück zu den von privaten Stadthäusern und kleinen Mietshäusern gesäumten Kopfsteinpflasterstraßen. Wohnte sie in einem dieser alten Häuser? Hatte
sie genug Geld, um die Hypotheken beziehungsweise die Miete zu bezahlen? Arbeitete sie für ihren Lebensunterhalt, oder ließ sie andere für sich arbeiten? Vielleicht wohnte sie gar nicht in einem dieser edlen alten Häuser, sondern ging nur zum Putzen dorthin.
    Nein, für eine Putzfrau war sie zu teuer gekleidet, und ihre Hände waren, wenn auch unbestreitbar ungepflegt, zu weich und zu glatt für jemanden, der körperliche Arbeit verrichtete. Vielleicht putzte sie diese Häuser nicht, sondern verkaufte sie. Vielleicht war sie hergekommen, um sich mit einem Interessenten zu treffen, um ihm ein kürzlich renoviertes Haus zu zeigen, und hatte - was? Einen herabfallenden Ziegelstein auf den Kopf bekommen? Unwillkürlich tastete sie ihren Kopf nach Beulen ab, fand keine, stellte nur fest, daß ihr Haar sich aus der Spange gelöst hatte und ihr nun in vereinzelten dünnen Strähnen in den Nacken hing.
    Sie bog nach rechts in die Mt. Vernon Street ab, dann nach links in die Cedar Street, immer in der Hoffnung, daß irgend etwas ihrem Gehirn ein Startsignal geben würde. »Gebt mir doch bitte einen Anstoß«, flehte sie die baumbestandenen Straßen an, als sie an der Revere Street wiederum abbog und zur Embankment Road weiterging. Die Sonne war hinter einer dicken grauen Wolke verschwunden, und ihr war kalt, obwohl die Temperatur unverändert blieb. Sie erinnerte sich, daß der Winter verhältnismäßig mild gewesen war und die Experten einen weiteren heißen Sommer vorhersagten. Sie führten es auf den Treibhauseffekt zurück. Treibhaus. Treibgas. Ozonloch. Saurer Regen. Rettet den Regenwald. Rettet die Wale. Spart Wasser - duscht zu zweit.
    Sie fühlte sich plötzlich völlig erschöpft. Die Füße taten ihr weh, die große Zehe ihres rechten Fußes war völlig taub. Ihr Magen knurrte. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Was aß sie übrigens gern? Konnte sie kochen? Vielleicht machte sie gerade
irgendeine verrückte Diät, die ihr Hirn in Mitleidenschaft gezogen hatte. Oder vielleicht war sie high. Von Drogen. Oder von Alkohol. War sie betrunken? War sie jemals betrunken gewesen? Wie sollte sie merken, ob sie betrunken war oder nicht?
    Sie bedeckte die Augen mit den Händen und wünschte sich den eindeutigen dumpfen Kopfschmerz, der einem Kater vorauszugehen pflegte. Ray Millands Verlorenes Wochenende , dachte sie und fragte sich, wie alt sie sein mußte, um sich an Ray Millands zu erinnern.

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