Lauf, Jane, Lauf!
Es war makellos. Nichts war zu groß oder zu klein. Nichts stach unangenehm heraus. Alles war da, wo es sein mußte. Sie schätzte ihr Alter auf Mitte Dreißig und fragte sich gleich darauf, ob sie älter oder jünger aussah, als sie wirklich war. »Das ist alles so verwirrend«, flüsterte sie ihrem Abbild zu, das den Atem anzuhalten schien. »Wer bist du?«
»Ich kenne dich nicht«, antwortete ihr Spiegelbild, und beide Frauen senkten die Köpfe und starrten in das fleckige Becken aus weißem Porzellan.
»O Gott«, flüsterte sie, als eine Hitzewallung in ihr hochschoß. »Werd jetzt nicht ohnmächtig!« rief sie sich zu. »Werd jetzt bloß nicht ohnmächtig.«
Doch die Hitzewelle flutete durch ihren ganzen Körper, durch die Beine und den Magen in die Arme und den Hals, und staute sich in ihrer Kehle. Sie hatte das Gefühl, von innen heraus zu schmelzen, ein Gefühl, als würde sie jeden Moment in Flammen aufgehen. Wieder spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, aber es kühlte sie nicht ab und machte sie nicht ruhig. Sie riß an den Knöpfen ihres Mantels, um ihrem Körper Luft zu geben, mehr Raum zum Atmen. Die Zeitschrift unter ihrem Arm fiel zu Boden, sie bückte sich hastig nach ihr und zog im Aufstehen ihren Mantel auseinander.
Sie holte tief Luft und erstarrte.
Langsam, wie eine Marionette, die von fremder Hand geführt wird, senkte sie in nahtloser Bewegung den Kopf zur Brust. Was sie sah - schon gesehen, aber nicht zur Kenntnis genommen hatte, als sie in die Knie gegangen war, um die Zeitschrift aufzuheben
-, war ein schlichtes blaues Kleid, das vorn blutdurchtränkt war.
Sie schnappte erschrocken nach Luft, ein Laut wie der eines kleinen Tiers, das in eine Falle geraten ist. Der Schreckenslaut wurde zum Stöhnen und steigerte sich zum Entsetzensschrei. Sie hörte Schritte, Stimmen, sah sich umringt, überwältigt.
»Was ist hier los?« begann der Ladeninhaber und brach ab, ohne den Mund zu schließen.
»Um Gottes willen!« rief ein Junge, der neben ihm stand.
»Wahnsinn!« sagte sein Begleiter.
»Was haben Sie getan?« fragte der Mann mit dem Pferdeschwanz, während sein Blick durch die Kammer schweifte, zweifellos auf der Suche nach zerbrochenem Glas.
Sie sagte nichts.
»Jetzt hören Sie mal her, Lady«, begann er von neuem, während er gleichzeitig seine zwei halbwüchsigen Kunden von der Tür wegscheuchte. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, und ich will’s auch nicht wissen. Verschwinden Sie aus meinem Laden, ehe ich die Polizei hole.«
Sie rührte sich nicht.
»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt hab? Ich hol die Bullen, wenn Sie nicht auf der Stelle abhauen.«
Sie starrte den verschreckten Ladeninhaber an, der plötzlich den Schrubber packte und damit auf sie losging, als wäre er ein Matador und sie der Stier. »Blut«, flüsterte sie und sah ungläubig an sich hinunter. Es war frisches Blut, sogar noch ein wenig feucht. War es ihr eigenes Blut oder das eines anderen? »Blut«, sagte sie wieder, als könnte die Wiederholung des Wortes alles ins Lot bringen.
»Sie haben genau zehn Sekunden, Lady, dann hol ich die Bullen. Ich will keine Scherereien. Ich will nur, daß Sie aus meinem Laden verschwinden.«
Ihr Blick ging zu ihm, und ihre Stimme war so leise, daß er sich
vorbeugen mußte, um sie zu hören. »Ich weiß nicht, wohin«, sagte sie und spürte, wie sie zu schwanken begann.
»Nichts da, kommt nicht in Frage«, sagte der Mann hastig und hielt sie fest, ehe sie umfallen konnte. »In meinem Laden werden Sie nicht ohnmächtig.«
»Bitte«, stieß sie hervor und wußte selbst nicht, ob sie um Verständnis oder um Bewußtlosigkeit bettelte.
Der junge Mann war, obwohl weder sonderlich groß noch muskulös, überraschend kräftig. Er packte sie fest um die Taille und schleppte sie zur Tür. Dort machte er plötzlich halt und sah sich mißtrauisch um. »Ist das vielleicht so ’ne Show wie >Vorsicht Kamera« fragte er argwöhnisch, einen Unterton von Verlegenheit in der Stimme, als fürchte er, hereingelegt worden zu sein.
»Sie müssen mir helfen«, sagte sie.
»Und Sie müssen aus meinem Laden verschwinden«, entgegnete er wieder beruhigt und stieß sie hinaus. Sie hörte die Tür hinter sich zufallen und sah ihn zornig die Arme schwenken, um sie zu vertreiben.
»Mein Gott, was soll ich denn jetzt tun?« fragte sie die geschäftige Straße. Wieder übernahm der Puppenspieler das Kommando, knöpfte ihren Mantel zu, klemmte ihr die Zeitschrift unter den Arm, lenkte ihren
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