Lauf, so schnell du kannst
bringen. Dies durfte einfach nicht geschehen sein. Chad hatte Davis
nicht
erschossen, hatte
nicht
auf sie geschossen. Weshalb sollte er das tun? Was war vorgefallen? Was hatte sie verpasst?
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Chad an ihr vorbeiging und den Strahl der Taschenlampe über die Zelte gleiten ließ, als erwartete er, dass sie irgendwo zwischen ihnen hockte. Sie hob den Kopf ein kleines Stück, gerade hoch genug, um das glänzende Gewehr im Regen liegen zu sehen, drei, vielleicht fünf Meter entfernt, aber es konnten genauso gut dreißig Meter sein. Hätte sie das Gewehr nicht fallen gelassen, dann hätte sie ihn gehabt; er stand da, fast ganz von ihr abgewandt. Aber sie
hatte
die Waffe fallen lassen, und wenn sie versuchte, sie mit einem Sprung zu erreichen, würde er sie hören, und der Boden war jetzt so schlüpfrig, dass sie sich nicht sicher war, ob sie die Entfernung überwinden konnte, ohne zu stürzen.
Eins der Pferde, wahrscheinlich Samson, tat jetzt sein Möglichstes, um den Pferch einzutreten. Chad fuhr in diese Richtung herum und wandte ihr nun vollständig den Rücken zu, und Angie sammelte sich, erhob sich auf alle viere, grub die Spitzen ihrer Stiefel in den Schlamm …
… und ein weiterer Blitz enthüllte das Monster, das aus den Bäumen kam, ein riesiger schwarzer Koloss, der mit schaukelndem Gang und gesenktem Kopf vorwärtstappte, und das grauenvolle Knacken seiner Kiefer klang, als zerbräche er Knochen. Chad drehte sich gerade rechtzeitig um, um einen Blick darauf zu erhaschen, dann hörte sie das erstickte Kreischen, das er ausstieß, als er auf die Pferde zustürzte.
Alles Blut wich ihr aus dem Kopf. Sie hörte ein summendes Geräusch, und trotz all der Blitze war ihre Sicht wie ausgewaschen, als betrachtete sie ein Foto, das fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst war. Sie dachte, dass sie hilflos mit dem Gesicht voran in den Schlamm fallen würde, aber wenn sie jetzt auch nur die geringste Bewegung machte, würde der Bär sie vielleicht sehen und angreifen. Daher zwang sie sich, wie ein Läufer im Startblock zu erstarren, wartete darauf, dass sich das Monster auf Chad warf und ihn mit seinen aufgerissenen Kiefern packte.
Stattdessen hob er aber eine große Pfote und schlug nach Davis’ Leichnam. Er stieß ihn mit der Schnauze an, drehte ihn um. Davis’ Beine und Arme schlenkerten herum wie die einer Stoffpuppe. Der Bär umkreiste ihn, wippte ein wenig auf den Vorderpfoten auf und ab. Von der Rückseite der Zelte kam das Klappern fallender Pfähle, ein Geräusch, das sie schon so oft gehört hatte, dass sie genau wusste, um was es sich handelte. Das Schlagen von Hufen auf dem Boden, eins der Pferde mit einer dunklen Gestalt auf dem Rücken – Chad stahl die Pferde, alle Pferde, und floh.
Ließ sie dort mit dem Bären allein.
Für einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, konnte sie ihr von Panik betäubtes Gehirn nicht dazu zwingen weiterzuarbeiten. Dann begann sie ganz langsam die Situation zu analysieren. Der Bär war … sagen wir … zwanzig, vielleicht dreißig Meter entfernt? Ein Bär hatte kein gutes Sehvermögen. Er hatte ein ausgezeichnetes Gehör und einen unglaublichen Geruchssinn, aber der Regen und der Wind kamen aus der Richtung des Bären. Er konnte sie also nicht riechen. Seine Aufmerksamkeit galt Davis’ Leiche. Er konnte ohnehin nicht allzu gut sehen, und der Regen verlieh ihr einen zusätzlichen Schutz.
Jeder einzelne Instinkt schrie ihr zu, sich nicht zu bewegen, auf keinen Fall seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber sie brauchte dieses Gewehr. Um es zu bekommen, musste sie fünf Meter näher an den Bären herankriechen und beten, dass er sie nicht sah. Langsam, ganz langsam hob sie die rechte Hand aus dem Schlamm und bewegte sie vorwärts. Als Nächstes kam ihr linkes Knie an die Reihe. Dann ihre linke Hand, die immer noch die Taschenlampe umklammert hielt. Rechtes Knie. Den Vorgang wiederholen. Ganz, ganz langsam zwang sie sich, tief und kontrolliert durch den Mund einzuatmen und die Luft dann lautlos wieder ausströmen zu lassen, ohne die geringste Kraft einzusetzen. Wenn sie jetzt kein Geräusch machte, würde der Bär sie vielleicht nicht bemerken.
Sie berührte den Schaft des Gewehres. Sie erstarrte für einen Moment, überzeugte sich davon, dass der Bär noch beschäftigt war. Die fast unaufhörlichen Blitze zeigten das Tier in einer Art Serienbild-Effekt, als es Davis in den Bauch biss und ihn mit einer Drehung seines
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