Lauf, so schnell du kannst
Flasche war nicht viel, aber Wasser war schwer, und sie wollte sich nicht belasten. Die Taschenlampe.
Sie dachte daran, rasch ihre durchweichten Jogginghosen gegen Jeans zu tauschen, aber durchweichte Jeans würden nicht besser sein. Hastig legte sie einige Klamotten in die Satteltaschen und fügte noch ein paar zusätzliche Schachteln Munition hinzu, denn ungeachtet des Gewichtes war zusätzliche Munition immer eine gute Sache, dann schnallte sie die Riemen zu. Sie zog ihre Regenjacke über den nassen Mantel, schob ihr verschlammtes Gewehr in die Tasche und schlang sie sich über die Schulter.
Dann öffnete sie die Zelttür und glitt hinaus in die Nacht.
Sie rannte immer noch nicht. Sie musste erst etwas Abstand zwischen sich und den Bären bringen, zwischen sich und Chad, und das am besten vorsichtig. Sie konnte die Taschenlampe nicht einschalten, daher achtete sie vorsichtig auf jeden Schritt.
Sie konnte noch nicht einmal innehalten, um nachzudenken. Beide Killer, vor denen sie floh, fielen in die »Was zum Geier«-Kategorie, aber sie konnte sich jetzt nicht den Luxus leisten, zu analysieren, warum es geschehen war, sie musste einfach zusehen, dass sie schleunigst von hier wegkam. Sie musste sich darauf konzentrieren, nicht den Halt zu verlieren, darauf, auf der windabgewandten Seite des Bären zu bleiben und nicht von einem herabfallenden Ast auf den Kopf getroffen oder von einem Blitz erschlagen zu werden. Sie hatte genug, worüber sie sich Gedanken machen musste. Über das »Warum« würde sie sich später noch den Kopf zerbrechen können.
Lattimores Haus war weit entfernt, und sobald Chad herausgefunden hatte, dass sie nicht mehr hier im Camp war, würde er genau wissen, wohin sie wollte. Sie konnte nichts anderes tun, als weiterzugehen, weg von dem Blutbad, weg von dem, was sie gesehen hatte. Vorsicht war wichtiger als Geschwindigkeit … Aber,
verdammt,
etwas mehr Geschwindigkeit wäre auch nicht schlecht. Der Drang zu rennen war verlockend, doch noch widerstand sie ihm. Sie konnte nicht stundenlang rennen, und im Dunkeln auf rutschigem Schlamm zu rennen, das brauchte sie ganz sicher gar nicht erst zu versuchen.
Dare Callahans Lager lag näher als Lattimores Haus, erheblich näher, aber sie brauchte jetzt keinen Schutz; sie brauchte Hilfe. Außerdem würde das Lager fest verschlossen sein, und selbst wenn sie es in der Dunkelheit ausfindig machen konnte, würde sie nicht in der Lage sein hineinzugelangen. Sich dorthin aufzumachen, und nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie hereinkommen konnte, würde sie wertvolle Zeit kosten und ihr auf der Suche nach Hilfe nichts nützen. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, denn Chad würde hinter ihr her sein.
Wäre der Regen nicht gewesen, hätte sie für einen Moment innehalten und auf sie lauschen können – auf den Bären und den Mann –, aber der donnernde Regen schien jedes andere Geräusch zu übertönen. Der Regen platschte nicht nur, er hämmerte. Der Wind pfiff. Das einzig Gute war, dass die beiden sie auch nicht hören konnten. Das Wetter behinderte sie, setzte ihr zu, aber es beschützte sie auch, indem es sie in seinem wilden Herzen beschirmte.
Sie ging hügelabwärts. Wohin konnte sie auch sonst gehen? Sie versuchte gar nicht erst, auf dem Pfad zu bleiben, der dem Weg des geringsten Widerstands folgte, denn dort würde Chad wahrscheinlich sein. Der Boden war rau und uneben, so rutschig, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. Sie klammerte sich an alles, was sich gerade anbot: Büsche, herabhängende Äste, Felsen.
Der Wind drehte. Sie spürte den Unterschied im Gesicht. Sie blieb stehen und überlegte, wo der Bär war. Regen oder nicht, der Bär würde ihre Witterung aufnehmen können, wenn sie in dieser Richtung weiterging. Andererseits würde sie sich von Lattimore entfernen, wenn sie die Richtung änderte. Und ohne Sicht auf den Bären hatte sie auch keine Ahnung, ob er immer noch am gleichen Ort oder ob er weitergezogen war – nach Westen, weg von ihr. Oder ob er sich ein Stück höher parallel zu ihr bewegte. Oder ob er hinter ihr herkam.
Sie musste auf jeden Fall weiter. Sie streckte den linken Fuß aus und tastete nach festem Boden, nur um einen schlammigen Hang zu finden. Sie versuchte sich festzuhalten, griff nach einem Strauch, aber dann war sie bereits mitten im Schritt, als ihr linker Fuß unter ihr wegglitt. Sie versuchte, sich mit dem rechten Fuß zu fangen, doch er landete in einem Loch, das sie im Dunkeln nicht
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