Lauf, so schnell du kannst
schien gut zu sein, aber eine war definitiv schlechter als die andere. Sie brauchte die Satteltaschen, sie brauchte ihr Essen und auch die Pistole. Sie brauchte dieses Gewehr. Sie konnte ihre Waffen nicht dort oben zurücklassen.
Es war schwer genug gewesen, sich mit einem kaputten Knöchel den Berg hinunterzubewegen; hinauf aber bedeutete es Folter. Ihr Fortschritt maß sich in Zentimetern, und jeder Muskel in ihrem Körper schrie ihr zu aufzuhören. Sie war bei dem Sturz verletzt worden, und jetzt arbeitete die Schwerkraft auch noch gegen sie statt mit ihr.
Die Umkehrung dessen, was nur Sekunden gedauert hatte – fallen –, erforderte eine qualvoll lange Zeit. Sie wollte nicht daran denken, wie lange sie brauchte, um wieder nach oben zu klettern, daher tat sie es nicht, sondern kletterte nur. Jede Minute war kostbar, aber sie hatte keine Wahl. Sie kroch nicht einfach; sie zog sich hoch, einen verfluchten Zentimeter nach dem anderen. Sie benutzte den linken Fuß, um Halt zu finden und
zu schieben
. Sie hielt sich mit ihren blutigen Händen an Felsen fest, um nicht wieder nach unten zu rutschen. Sie krallte sich nach oben, grub die Finger tief in den Schlamm. Schlamm geriet ihr unter den Regenmantel, durch die Jogginghose, in die Stiefel hinein. Kalter Regen peitschte weiter auf sie herab. Angie dachte nur an das Ziel: ihr Gewehr, ihre Taschenlampe, ihre Pistole. Essen.
Tu es oder stirb.
Tu es oder stirb.
Sie tat es.
Ein Strauch lieferte ihr etwas zum Festhalten; sie klammerte sich daran, zog sich hoch, und dann war sie da, auf dem kleinen Vorsprung, der unter ihr nachgegeben hatte. Sie wollte schon jubeln, aber dann schwieg sie doch. Selbst als sie gefallen war, hatte sie nicht geschrien. Ihr Überlebensinstinkt hatte sie still bleiben lassen – von dem einen oder anderen dumpfen Aufprall abgesehen –, und er ließ sie auch jetzt schweigen. Sie würde später feiern, wenn sie von diesem Berg herunter war.
Sie konnte an ihre Ausrüstung kommen. Sie grub den linken Fuß tief in den weichen Boden und stützte sich ab, damit sie nicht wieder hinunterglitt, bevor sie die Satteltaschen und das Gewehr fest im Griff hatte. Sie waren beide sicher, nur wenige Schritte von dem Loch im Hang entfernt. Sie verspürte ein kurzes Triumphgefühl, als sie das Gewehr packte und es sich über die Schulter schlang, dann die Taschen.
Sie mochte zwar keine erfolgreiche Karriere als Führerin durch die Wildnis hingelegt haben, aber sie gab nicht so schnell auf, und sie gab jetzt erst recht nicht auf. Es war verlockend, sich hinzusetzen und auszuruhen, aber sie erlaubte es sich nicht, denn sie gab nicht auf.
Stattdessen hielt sie ihre Ausrüstung fest, brachte sich in Position und rutschte den Hügel hinunter – diesmal halb sitzend auf dem Hintern, sodass sie mehr Kontrolle hatte. Ja, ein kontrollierter Sturz. Sie hielt das Gewehr hoch, damit es möglichst nicht in den Schlamm geriet, aber eigentlich konnte es nicht noch schlammiger werden, als es ohnehin schon war.
Dann war sie am Fuß des Abhangs, und der einzige Weg nach vorn war wieder nur auf Händen und Knien zu bewältigen. Angie kroch los.
Tu es oder stirb.
Dare hörte den Donner, lange bevor der Regen kam. Er weckte ihn aus einem festen Schlaf, und er lag in seinem warmen Schlafsack und lauschte darauf, wie der Sturm näher kam. Was zum Teufel machte er hier draußen? Bei Gewitter konnte er nicht angeln. Sollte der Regen nicht ein oder zwei Tage andauern? Er würde vielleicht für mehrere Tage hier im Lager festsitzen und nichts anderes tun können, als Däumchen zu drehen und sich dafür zu verfluchen, was für ein Idiot er war.
Er hätte nicht auf Harlan hören sollen. Er sollte zu Hause sein, er sollte in seinem eigenen verdammten Bett liegen, wo der Regen beruhigend statt bedrohlich klänge. Aber er war nun mal nicht dort; er war hier, und wenn er es noch einmal tun müsste … verdammt, dann wäre er trotzdem hier.
Er sollte jetzt schlafen. Normalerweise und unter den richtigen Bedingungen mochte er Gewitter ganz gern. Der Raum war vollkommen dunkel, bis auf jene Augenblicke, da Blitze den Rand der verschlossenen Fensterläden erhellten, und als der Regen einsetzte, erwartete er, dass ihn das Geräusch wieder in den Schlaf lullte. Er musste jedoch immer wieder an Angie denken. Waren die Zelte in dem Camp, das sie gemietet hatte, stabil genug, um dem Sturm zu trotzen? Er dachte schon, dass sie es waren, denn es war nicht so, als hätten sie hier oben
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