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Lauf, so weit du Kannst!

Lauf, so weit du Kannst!

Titel: Lauf, so weit du Kannst! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bowler
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Einkaufskomplex entstehen. Lauter nette, warme Gebäude. Aber leider sind sie noch nicht da. Deshalb müssen wir uns mit einem Rohr begnügen.
    Ja, ich weiß.
    Aber im Moment gibt es keinen besseren Platz, den ich erreichen könnte. Wir müssen im Freien übernachten wie Penner. Hoffentlich reicht meine Kraft noch, um über diesen letzten hohen Zaun zu klettern. Ruhig atmen, die Umgebung abchecken. Sogar hier muss ich vorsichtig sein. Irgendwo auf dem Gelände ist ein Nachtwächter.
    Aber er nimmt seinen Job nicht besonders ernst.
    Keine Spur von ihm. Auch keine Spur von Hunden.
    Oder Feinden.
    Das will nichts heißen. Aber wir müssen es versuchen.
    Den Zaun rauf, eine Hand über die andere. Wenigstens kann man gut drüberklettern. Ich lasse mich auf der anderen Seite runterfallen, krabble am Zaun entlang und dann nach rechts, in den Graben runter. Du fragst dich, warum ich mich hier auskenne? Das habe ich dir doch schon gesagt, Bigeyes.
    Ich beobachte meine Umgebung genau und merke sie mir.
    Jetzt bin ich froh. Denn das ist unser Platz für den Rest der Nacht. Und er ist frei. Ich krieche in das Rohr unten im Graben, rolle mich im Dunkeln zusammen und schließe die Augen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten.
    Entweder ich schlafe oder ich sterbe. Vielleicht auch beides.
    Und weißt du was, Bigeyes?
    Es ist mir inzwischen ziemlich egal, ob ich sterbe.
    Nein, das ist gelogen. Es ist mir nicht egal. Ich kann nicht einschlafen, Bigeyes. Und sterben kann ich im Moment auch nicht. Vielleicht dauert das noch eine Stunde oder so. Im Moment kann ich nur zittern. Und denken. Und heulen.
    Wieso heule ich eigentlich? Kannst du mir das sagen? Was nützen die verdammten Tränen? Sie helfen weder mir noch sonst wem. Sie können mich weder am Leben erhalten noch mir das Sterben erleichtern. Sie können die liebe Becky nicht zurückbringen.
    Auch nicht diese tyrannische Alte, die tot am Fuß ihrer Treppe liegt. Oder den Mann aus dem Abstellraum im Krankenhaus. Sie trösten seine Frau nicht. Oder seine Familie. Oder die anderen. Ja, es gibt noch andere, von denen ich dir erzählen könnte. Ich kann ihre Gesichter sehen.
    Ich halte immer noch das Messer in der Hand, siehst du?
    Das kleine Spielzeug des Mistkerls.
    Und es kotzt mich an, dass ich es die ganze Zeit in der Hand hatte, ohne es zu merken. So wie man nicht merkt, dass man Hände und Füße hat, solange man nicht bewusst auf sie achtet. Die meiste Zeit weiß man nur, dass man sie hat. Man empfindet sie als selbstverständlich.
    Wie ich dieses Messer.
    Ich empfinde es als selbstverständlich. Ich erinnere mich an das Zimmer unter dem Dach, an die Schritte auf der Treppe. Ich weiß noch, dass ich das Messer bereits in der Hand hatte, als ich aus dem Bett sprang. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich es aus der Tasche zog und aufschnappen ließ.
    Vielleicht war die Klinge bereits draußen.
    Vielleicht hatte ich das Messer bereits in der Hand.
    Ich erinnere mich nicht mehr, Bigeyes. Das ist das Verrückte daran.
    Das Messer war einfach da. So wie meine Hände und Füße einfach da sind. Und jetzt ist es wieder da. Die Klinge ist draußen und ich halte es fest in der Hand.
    Schau dich um, Bigeyes. Das ist jetzt unsere Welt. Dunkelheit, Kälte, Gefahr. Ein Graben aus Sand und Dreck. Ein Rohr. Ein Messer, das immer da ist. Und Tränen. Es ist, als bestünde ich aus Tränen.
    Ich verstehe das nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich verletzt bin und weiß, dass ich sterben werde. Und ich zittere immer noch. Heute Nacht werde ich keinen Schlaf finden. Daraus wird nichts mehr. Stattdessen werde ich mich allmählich ins dunkle Reich des Todes rüberzittern.
    Und dann?
    Das weiß nur Gott. Falls es einen Gott gibt. Das ist mir ziemlich egal, weißt du?
    Ich sage dir, warum. Weil er mich gleich am ersten Tag im Stich ließ. Ich habe dir ja schon erzählt, dass der Ärger bereits am verfluchten ersten Tag begann. Das habe ich andeutungsweise gesehen, als mir im Krankenwagen all die Bilder durch den Kopf schossen. Oder ich habe es zumindest gespürt.
    Meine Eltern – wer sie auch sind – haben einen Blick auf mich geworfen und Nein gesagt. Sie hätten mich ebenso gut hier aussetzen können.
    In diesem Rohr.
    Aber sie haben mich in einem anderen Loch zurückgelassen. Woher ich das weiß? Weil ich mich an die Leute erinnere, die mich gefunden haben. Und an das,

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