Lauf, wenn du kannst
übermächtigen Drang, dem Kerl einen Magenschwinger zu verpassen. Als er auf den Flur trat, sah er seinen Lieutenant vor sich.
»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte sich Bruni.
»Nicht so gut«, erwiderte Bobby wahrheitsgemäß.
Die Sonne war aufgegangen, und der Himmel leuchtete blau, als Bobby in die Auffahrt des Hauses einbog, in dem Susan wohnte. Inzwischen hatte der morgendliche Berufsverkehr eingesetzt, und sein Funkgerät meldete Staus, Unfälle und liegen gebliebene Autos auf dem Seitenstreifen. Es war wieder Tag, und die Stadtbewohner krochen aus ihren mit Sicherheitsschlössern verrammelten Käfigen, um in Massen die Gehwege und Cafes zu bevölkern.
Er stieg aus dem Wagen und atmete einen tiefen Zug kalter, nach Diesel und Asphalt riechender Stadtluft ein, und einen unwirklichen Moment lang war es, als hätte jene Nacht nie stattgefunden. Das hier – das Gebäude, das Parkhaus, die Stadt an sich –, das war die Realität, während die Schießerei nur ein Trugbild, ein besonders eindringlicher Traum gewesen sein konnte. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er, Bobby, jetzt seine Uniform anzog, wieder in den Streifenwagen stieg und zur Arbeit fuhr.
Ein Mann ging vorbei und beschleunigte beim Anblick von Bobby, der wie benommen in seinem durchgeschwitzten Tarnanzug dastand, rasch seinen Schritt. Bobby kehrte mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück. Er schulterte seinen guten, alten Rucksack und steuerte auf Susans Wohnung zu.
Beim zweiten Klopfen machte sie auf. Sie trug einen rosafarbenen Bademantel aus Chenille, und an ihrem rosigen Gesicht konnte man erkennen, dass sie gerade erst aus ihrem warmen, gemütlichen Bett aufgestanden war. Da die Orchesterproben sich häufig bis in die späte Nacht hinzogen, schlief sie am nächsten Morgen meistens aus.
Sie betrachtete Bobby. Ihr blondes Haar war vom Schlafen zerzaust, die Wangen waren gerötet, und sie hatte die Lider über den grauen Augen halb geschlossen. Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Hallo, Liebster«, begann sie, doch im nächsten Moment war sie vollständig wach, und die freudige Überraschung wich einer besorgten Miene. »Solltest du nicht im Dienst sein? Was ist passiert, Bobby?«
Er trat ein. Es gab so vieles, was er ihr sagen musste, und er spürte, wie sich die Worte in ihm aufbauten und ihm die Brust abschnürten. Susan war Cellistin bei den Bostoner Symphonikern, und sie hatten sich ausgerechnet in einer Kneipe kennengelernt.
Bobby hatte keine Ahnung von klassischer Musik. Seine Freizeit verbrachte er in Sportbars, beim Basketball und mit einem eiskalten Bier. Susan hingegen bevorzugte wehende Röcke, lange Spaziergänge im Park und Teetrinken im Ritz.
Trotzdem hatte er sie gefragt, ob sie Lust hätte, mit ihm auszugehen. Und zu ihrer beider Überraschung hatte sie ja gesagt. Aus den Tagen waren Wochen, aus den Wochen Monate geworden, und inzwischen waren sie schon seit über einem Jahr zusammen. Manchmal glaubte Bobby, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in sein kleines zweistöckiges Reihenhaus im Süden von Boston einziehen würde. Und er gestattete sich sogar Tagträume von Hochzeit, Kindern und zwei Schaukelstühlen im Altersheim.
Allerdings hatte er es bis jetzt noch nicht gewagt, dieses Thema anzuschneiden. Vielleicht, weil es zu häufig zu Situationen wie dieser kam, wenn er verschwitzt, schmutzig und von den Spuren einer arbeitsreichen Nacht bedeckt vor ihr stand, und darüber erschrak, dass sie ihn überhaupt hereinließ, und sich nicht darüber freuen konnte.
Ihre Welt war so wunderschön. Was zum Teufel wollte sie von einem Kerl wie ihm?
»Bobby?«, fragte sie leise.
Er fand die richtigen Worte nicht. Seine Lippen wollten sich einfach nicht bewegen. Denn nichts konnte die aufgestauten Gefühle freisetzen, die ihm die Brust abdrückten.
O Gott, der arme Junge. Zusehen zu müssen, wie sein Vater starb.
Warum hatte der Schweinekerl ihn dazu gezwungen? Aus welchem Grund hatte Jimmy Gagnon heute Nacht Bobbys Leben ruiniert?
Er bewegte sich, ohne es zu bemerken. Seine Hände glitten unter Susans Bademantel und tasteten verzweifelt nach nackter Haut. Sie murmelte etwas. Ja, nein, er hörte es nicht wirklich. Dann streifte er ihr den Bademantel ab, glitt mit dem Finger über die zarte Spitze, die ihre Brüste bedeckte, und presste das Gesicht in die Grube an ihrem Hals.
Sie hatte wunderschöne Finger. Lang, zart, aber erstaunlich kräftig. Finger, die einem prachtvollen
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