Lauf, wenn du kannst
ihnen nur den Alltag durcheinander gebracht und sich wie eine Außenseiterin gefühlt.
Vielleicht sollte sie sich ja einen siamesischen Kampffisch anschaffen. Oder noch besser einen Ficus Benjamin, eine Birkenfeige. Denn eine Pflanze würde es sicher nicht als ganz so kränkend empfinden, dass sie fast jeden zweiten Abend Sushi mit nach Hause brachte. Jedenfalls war es eine Überlegung wert.
Vorne im Büro läutete es. Elizabeth, die es gewohnt war, dass in einer Stadt öfter einmal jemand die falsche Klingel erwischte, achtete nicht darauf. Dann aber läutete es erneut. Argwöhnisch runzelte sie die Stirn. Es war nach fünf, also zu spät für Lieferungen. Außerdem vereinbarte sie freitags grundsätzlich keine Feierabendtermine, denn schließlich musste sie zumindest den Schein eines Privatlebens wahren. Es läutete zum dritten Mal, und zwar schrill und beharrlich. Schließlich gewann Elizabeths Neugier die Oberhand, und sie ging nach draußen zum Schreibtisch ihrer Empfangssekretärin, wo sie ein paar Knöpfe an Sarahs Computer betätigte. Im nächsten Moment konnte sie sehen, wer da vor der Überwachungskamera stand, die über der Eingangstür angebracht war.
Der Anblick erstaunte sie. Andererseits war es zu erwarten gewesen.
Elizabeth ließ den Mann herein. Einige Minuten später stieg er die Treppe zu ihrer Praxis im ersten Stock hinauf. Draußen war es kalt geworden. Vielleicht müsste man heute Nacht sogar mit Schneetreiben rechnen, doch das war nicht der einzige Grund, warum der Mann eine dunkelblaue Kappe mit der Aufschrift »Patriots« tief in die Stirn gezogen trug und einen dicken roten Schal umgewickelt hatte. Doch zu seinem Pech verrieten ihn seine Augen.
Elizabeth hatte diese kühlen grauen Augen erst heute Morgen gesehen, und zwar als sie ihr von der Titelseite des Boston Herald entgegengeblickt hatten. »Staatspolizist erschießt Richtersohn«, hatte die Schlagzeile reißerisch verkündet. »Spätnächtlicher Schusswechsel zerstört Familie.«
Das Foto war sicher ohne Wissen des Mannes aufgenommen worden. Er blickte darauf mit stumpfem und finsterem Augenausdruck ins Leere. Elizabeth hatte keine Ahnung, wie man sich fühlte, wenn man gerade einen Menschen getötet hatte, aber die Miene des Polizisten ließ vermuten, dass es kein Grund zum Jubeln war.
»Guten Abend«, sagte sie ruhig und hielt ihm die Hand hin. »Dr. Elizabeth Lane.«
Der Händedruck des Mannes war kräftig, aber kurz. Dann steckte er beide Hände wieder in die Jackentaschen. »Bobby Dodge«, murmelte er. »Lieutenant Bruni meinte, er hätte mit Ihnen gesprochen.«
»Er dachte, Sie wären möglicherweise daran interessiert, zu mir zu kommen.«
»Hätte ich einen Termin vereinbaren sollen?« Bobby runzelte die Stirn. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Wahrscheinlich wäre es wirklich besser gewesen, vorher anzurufen. Denn inzwischen ist es schon ziemlich spät. Ich glaube, dann gehe ich lieber wieder.«
Elizabeth lächelte. »Normalerweise ist ein Termin wirklich das Praktischste, aber Sie haben zufällig Glück. Da mir in letzter Minute jemand abgesagt hat und Sie nun schon einmal hier sind, können wir uns genauso gut jetzt gleich unterhalten.«
»Ich habe keine Ahnung, wie das hier läuft«, sprach der Polizist rasch weiter. »Ich wollte damit sagen, dass ich noch nie beim Seelenklempner war. Ich bin nicht einmal sicher, ob dieser Psychokram überhaupt etwas nützt. Aber der Lieutenant war dafür, dass ich Sie aufsuche, und die Jungs von der Personalvertretung haben mir auch dazu geraten. Also, hier bin ich.«
»Was glauben Sie?«
»Ich finde, dass ich nur meinen Job gemacht habe. Eine Frau und ihr Kind leben heute noch, und das haben sie mir zu verdanken. Ich schäme mich nicht.«
Elizabeth nickte und vermutete, dass jemand, der so spontan abstritt, sich zu schämen, offenbar auch die Wahrheit sagte.
Sie wies auf den Garderobenständer. »Legen Sie bitte ab, und kommen Sie mit.«
Nachdem Bobby Jacke, Mütze und Schal ausgezogen hatte, wies Elizabeth auf die offene Bürotür, folgte ihm und versuchte dabei, sich ein erstes Bild von dem Besucher zu machen.
Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende Dreißig. Nicht sehr groß, vielleicht eins vierundsiebzig, und ungefähr achtzig Kilo schwer. Aber er hatte anmutige Bewegungen und war gefasst, beherrscht, offenbar ein Mann, der im Leben schon viel gesehen hatte. Seine Jeans und sein dunkelblaues Flanellhemd waren abgetragen. Sie hätte jede Wette abgeschlossen, dass seine
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