Lauf, wenn du kannst
Familie der Arbeiterschicht entstammte und stolz darauf war und dass Bobby als Erster das College besucht hatte. Doch anstatt den Wunsch seines Vaters zu erfüllen und sich einen guten Posten in einem Großkonzern zu suchen, hatte er sich für den Mittelweg entschieden, nämlich zur Polizei zu gehen. So stand er wirtschaftlich gesehen eine Stufe über seinem Vater, allerdings ohne sich allzu weit von seinen Wurzeln zu entfernen. Ganz sicher joggte er in seiner Freizeit und fühlte sich in der freien Natur am wohlsten.
Selbstverständlich stellte sie nur Vermutungen an, ein Spiel, das sie gerne spielte, wenn sie einen neuen Patienten kennenlernte. Zu ihrem Erstaunen behielt sie häufig Recht.
Im Büro angekommen, fiel Bobbys Blick als Erstes auf das kleine Ledersofa.
»Da muss ich mich aber doch wohl nicht draufsetzen, oder?«
»Sie können ja einen der Lehnsessel nehmen.« In Elizabeths Büro standen auch zwei jägergrüne Sessel, allerdings ein Stück vom Schreibtisch zurückversetzt, sodass man sie im Dämmerlicht nur schlecht sehen konnte. Elizabeth überlegte häufig, ob sie ihr Büro nicht umräumen sollte, damit die Sessel besser ins Auge stachen, aber andererseits musste man ja auch ein bisschen Spaß im Leben haben.
Bobby ließ sich in einem der Sessel nieder. Die Knie gespreizt und die schlanken Finger ineinander verschränkt, kauerte er auf der Kante der Sitzfläche und musterte den mahagonigetäfelten Raum. Seine düsteren grauen Augen nahmen jede Einzelheit auf – die Fachbücher in den Regalen, die Messingplaketten an der Wand, den Zengarten.
Etwas an ihm machte Elizabeth zu schaffen, doch sie konnte nicht genau sagen, was es war. Er war nicht nur ungewöhnlich beherrscht, sondern unnatürlich ... still. Kein überflüssiges Geräusch, keine unnötige Bewegung. Wahrscheinlich störte es ihn nicht, über lange Zeiträume hinweg zu schweigen. In Gesprächen war er eindeutig nicht der Mann, der auf sein Gegenüber zuging. Man musste den ersten Schritt machen.
»Sitzen Sie auch bequem?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Ich habe es mir ganz anders vorgestellt.«
»Wie denn?«
»Irgendwie ... nicht so schick.« Mit »schick« meint er wohlhabend, das verstanden sie beide. »Hat Sie wirklich der Staat beauftragt?«
»Ich habe vor fünfzehn Jahren angefangen, mit der Staatspolizei zusammenzuarbeiten. Mein Vater war vor seiner Pensionierung Detective in Chicago, also könnte man sagen, dass mich dieses Gebiet aus persönlichen Gründen interessiert.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht habe ich deshalb nie meine Honorare erhöht. Soll ich Ihnen erklären, wie es jetzt weitergeht?«
»Einverstanden.«
»Ich bin für die Staatspolizei von Massachusetts tätig, nicht für Sie. Deshalb bin ich verpflichtet, den Inhalt unserer Gespräche weiterzumelden, was das Arztgeheimnis im Zusammenhang mit dem, was Sie mir hier erzählen, einschränkt. Allerdings erwähne ich niemals Einzelheiten. Andererseits erwartet man von mir Schlussfolgerungen und Einschätzungen. Wenn Sie mir zum Beispiel sagen würden, dass Sie allabendlich anderthalb Liter Whiskey trinken, würde ich das zwar nicht unbedingt wiederholen, aber ich müsste mich dagegen aussprechen, dass Sie wieder zum Dienst antreten. Haben Sie das verstanden?«
»Hüte deine Zunge«, brummte er. »Ein interessanter Ansatz.«
»Es ist trotzdem das Beste, offen zu sein«, erwiderte Elizabeth leise. »Ich bin da, um Ihnen zu helfen. Sollten wir zu dem Ergebnis kommen, dass ich das nicht kann, werde ich Sie an jemand anderen überweisen.«
Bobby zuckte nur die Achseln. »Gut. Was wollen Sie also von mir hören?«
Wieder musste Elizabeth schmunzeln. Gleich zur Eröffnung offene Feindseligkeit. Aber etwas anderes hatte sie gar nicht erwartet. »Beginnen wir ganz am Anfang.« Sie griff nach einem Klemmbrett. »Name?«
»Robert G. Dodge.«
»Wofür steht das G.?«
»Angesichts des eingeschränkten Arztgeheimnisses behalte ich das lieber für mich.«
»So schlimm ist es? Lassen Sie mich raten. Geoffrey?«
»Nein.«
»Godfrey? Hat man Ihnen den schönen Namen Godfrey verpasst?«
»Wie zum Teufel sind Sie darauf gekommen?«
»Ich gebe meinen zweiten Vornamen auch nicht gerne an. Godfrey also. Familientradition?«
»Das behauptet wenigstens mein Vater.«
»Und Ihre Eltern heißen?«
»Mein Vater. Er heißt Larry. Lawrence, um genau zu sein.«
»Und Ihre Mutter?«
»Weg.«
»Weg?«
»Ja, weg. Abgehauen. Ich war vier oder fünf. Nein, sechs
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