Lauf, wenn du kannst
Schreckensszene hatte Catherine am ganzen Leib gezittert wie Espenlaub. Inzwischen ertrug sie alles mit der verbissenen Miene eines Kriegsveteranen, während zwei Krankenschwestern den sich wild sträubenden Nathan auf das Bett drückten. Zwei andere schnitten seinen mit Cowboys bedruckten Pyjama auf und schlossen den Jungen mit Kabeln an den Herzmonitor an. Als Nathan vor Schmerzen schrie, wurde ihr Griff fester.
So ging es immer weiter. Nathan kämpfte um sein Leben, das Krankenhauspersonal versuchte gewaltsam, ihn zu beruhigen.
Später, als das Schlimmste vorbei war, Schwestern und Assistenzärzte sich dringenderen Fällen zugewandt hatten und Nathan – bewusstlos, stoßweise atmend, eine winzige Gestalt verloren in einem eisernen Krankenhausbett – allein zurückblieb, nahm Dr. Rocco sie beiseite.
»Catherine ... ich weiß, dass es für dich zurzeit zu Hause ziemlich schwierig sein muss ...«
»Ach wirklich?« Die Antwort war zu barsch ausgefallen, und Catherine bereute ihren heftigen Tonfall schon im nächsten Moment. Sie wandte sich von Dr. Rocco ab und starrte an die viel zu weiße Wand. Das Piepsen des Herzmonitors zählte zuverlässig Nathans Herzschläge mit. Manchmal verfolgte sie dieses Geräusch bis in den Schlaf.
»Jimmy, wir müssen etwas wegen Nathan unternehmen.«
»Mein Gott, Catherine, kannst du den armen Jungen nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Jimmy, schau ihn dir doch nur an. Er ist krank. Sehr schwer krank ...«
»Ach, ja? Die ganzen teuren Untersuchungen, zu denen du ihn geschleppt hast, haben nichts ergeben. Vielleicht ist ja nicht Nathan das Problem, Cat. Allmählich frage ich mich, ob es nicht an dir liegt.«
»Catherine, er hat schon wieder Bauchspeicheldrüsenentzündung. Das ist jetzt bereits das dritte Mal in diesem Jahr. Mit seinen schwachen Herzen und in seinem Gesundheitszustand ist er mit diesen ständigen schweren Infektionen völlig überfordert. Seine Leber ist vergrößert, und er zeigt immer noch Symptome von Unterernährung. Seit ich ihn zuletzt gesehen habe, hat er sogar noch ein halbes Kilo abgenommen. Hast du die abgesprochene Diät eingehalten? Viele kleine Mahlzeiten, nur Sojaprodukte?«
»Es ist so schwierig, ihn zu überreden, dass er etwas isst.«
»Was ist mit Lieblingsspeisen?«
»Er mag den Sojajoghurt, aber selbst dann ist er nach ein paar Löffeln satt.«
»Er muss aber essen.«
»Ich weiß.«
»Und er muss seine Vitamine nehmen.«
»Wir versuchen es ja.«
»Vierjährige bekommen keine Magersucht.«
»Ich weiß«, flüsterte sie hilflos. »Ich weiß. Kannst du denn gar nichts tun?«, fügte sie zögernd hinzu.
»Catherine ...« Der Arzt seufzte auf. Nun war er es, der an die Wand blickte. »Ich überweise dich an Dr. Iorfino.«
»Du schickst mich zu einem anderen Arzt?«
»Er hat am Montag um fünfzehn Uhr Zeit für dich.«
»Aber ein anderer Arzt heißt doch weitere Untersuchungen.«
»Ich weiß.«
»Tony ...« Das Wort klang wie ein Flehen.
Schließlich sah Dr. Rocco sie an. »Der Leiter der Kinderklinik hat mich offiziell gebeten, den Fall abzugeben. Tut mir leid, Catherine.«
Endlich fiel es Catherine wie Schuppen von den Augen. James. Ihr Schwiegervater hatte sich mit Dr. Rocco oder seinen Vorgesetzten in der Krankenhaushierarchie – oder sogar beiden – in Verbindung gesetzt. Die genauen Hintergründe spielten keine Rolle. Tony Rocco hatte als Nathans Arzt und ihr Verbündeter ausgedient.
Bemüht ruhig stand sie auf und achtete darauf, das Kinn hoch und den Rücken gerade zu halten. So anmutig wie möglich hielt sie Dr. Rocco die Hand hin. »Danke für deine Hilfe, Herr Doktor«, murmelte sie.
Er zögerte kurz. »Tut mir leid, Cat«, erwiderte er leise. »Dr. Iorfino ist ein guter Arzt.«
»Alt, kahlköpfig und übergewichtig?«, höhnte sie.
»Ein guter Arzt«, wiederholte Tony.
Sie ging hinaus und den Flur entlang bis zum Fenster der Intensivstation, wo sie zusehen konnte, wie sich Nathans magere Brust in einem Meer von Schläuchen hob und senkte. Wenn sein Fieber am Morgen gesunken und die Infektion abgeklungen war, würde sie ihn mit nach Hause nehmen.
Sie würde den richtigen Moment abpassen müssen, um ihm von dem neuen Arzt zu erzählen. Vielleicht war es das Beste, wenn Prudence zuvor mit ihm ins Kino ging, als eine Art Belohnung sozusagen. Möglicherweise war es aber auch ratsamer, abzuwarten, bis er sich ohnehin schon elend fühlte. Dann spielte eine Hiobsbotschaft mehr oder weniger keine Rolle mehr,
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