Lauf, wenn du kannst
Gegenteil davon. Langes schwarzes Haar, auf Figur geschnittenes schwarzes Kleid, hohe, dünne Absätze. Selbst von hinten war sie eine sehr attraktive Frau. Schlank, stilvoll und der Inbegriff von Wohlstand und makelloser Eleganz. Bobby kam zu dem Schluss, dass sie zu mager für seinen Geschmack war, zu sehr verwöhnte Zicke. Doch dann drehte sie sich um, und er spürte, wie sich in seinem Unterleib etwas zusammenzog. Es musste an ihrer Art liegen, sich zu bewegen, dachte er. Oder vielleicht auch daran, wie ihre dunklen, riesengroßen Augen ihr schmal geschnittenes Gesicht beherrschten.
Sie musterten einander, und eine ganze Weile blieben sie reglos stehen.
Als Bobby sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie auf ihn wie eine dunkle Madonna gewirkt, eine zart gebaute Mutter, die sich beschützend über ihren kleinen Sohn beugte. Nun aber, unter dem Eindruck der Vorwürfe, dass sie ihr Kind misshandelte, erschien sie ihm eher wie eine schwarze Witwe. Sie war kühl. Und ziemlich mutig, ihn so einfach anzurufen. Außerdem, so überlegte er sich, aller Wahrscheinlichkeit nach sehr gefährlich.
»Keine Sorge«, sagte sie leise, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Wir sind hier in einem Kunstmuseum. Kameras verboten, schon vergessen?«
»Schlau«, musste er zugeben, worauf sie ihm ein kurzes Lächeln schenkte, bevor sie sich wieder zu dem Bild umwandte.
Schließlich trat er auf sie zu und stellte sich ebenfalls vor den Whistler, allerdings in gebührendem Abstand zu ihr. Der Raum war noch ziemlich leer. Anfang November war in Boston keine Touristensaison. Zu spät, um den Anblick bunter Herbstblätter zu genießen, und zu früh für die Weihnachtseinkäufe. Deshalb mussten Bobby und Catherine den prächtig ausgestatteten Raum des in einer Villa untergebrachten Museums auch nur mit vier anderen Menschen teilen, und die schienen sich nicht für sie zu interessieren.
»Mögen Sie Whistler?«, fragte Catherine.
»Ich bin eher ein Pedro-Martinez-Fan.«
»Glauben Sie also auch daran, dass ein Fluch auf den Red Sox lastet?«
»Bis jetzt hat mir noch niemand das Gegenteil bewiesen.«
»Mir gefällt diese Studie von Whistler«, fuhr Catherine fort. »Die langen, sinnlichen Linien des Frauenkörpers im Kontrast zu dem üppigen blauen Stoff. Ich finde das ausgesprochen erotisch. Was meinen Sie? War diese Frau nur ein Modell, oder ist sie Whistlers Geliebte geworden, nachdem das Bild fertig war?«
Bobby schwieg. Aber sie schien auch keine Antwort zu erwarten.
»Ihm eilte nämlich der Ruf eines Schwerenöters voraus. Im Jahr 1888, nur wenige Jahre nach diesem Bild, heiratete er angeblich die Liebe seines Lebens, Beatrice Godwin. Acht Jahre später starb sie an Krebs. Was für ein Jammer. Wussten Sie, dass Whistler aus dieser Gegend war? Er wurde in Lowell, Massachusetts, geb...«
»Eigentlich bin ich nicht wegen der Bilder hier.«
Sie zog nur die Augenbraue hoch. »Schade, finden Sie nicht? Es ist ein wundervolles Museum.«
Als ihr Bobby wieder einen finsteren Blick zuwarf, gab sie sich schließlich geschlagen. »Lassen Sie uns nach oben gehen. In den zweiten Stock.«
»Mehr Whistler?«
»Nein, weniger Leute.«
Sie stiegen die breite, geschwungene Treppe zur obersten Etage des Museums hinauf. Unterwegs kamen sie an weiteren Besuchern und Wachmännern vorbei, die mit steinernen Mienen in den Ausstellungsräumen standen. Vor vierzehn Jahren hatten zwei Diebe, verkleidet als Beamte der Bostoner Polizei, dreizehn Bilder gestohlen, und die Wachen hatten die schlechte Presse nicht vergessen, die dieses Verbrechen dem Museum eingebracht hatte. Inzwischen betrachteten sie jeden vorbeischlendernden Besucher ganz genau, sodass Bobby es vorzog, den Blick abzuwenden.
Endlich in der zweiten Etage angekommen, stellte er fest, dass er schwerer atmete, als ihm lieb war. Auch Catherine Gagnon gelang es nicht, die gewünschte Gelassenheit auszustrahlen. Bobby bemerkte, dass ihre seitlich herabhängenden Hände zitterten. Als hätte sie seinen Blick gespürt, ballte sie die Fäuste, um es zu verbergen.
Während Bobby ihr bis in den hintersten Raum folgte, fielen ihm wider Willen einige Dinge auf. Der Duft ihres Parfüms zum Beispiel, schwer und ein wenig nach Zimt und unter der Oberfläche brodelnder Hitze duftend. Oder ihr leichter, geschmeidiger, katzenartiger Gang. Sicher trieb sie Sport. Seiner Vermutung nach Yoga oder Pilates. Jedenfalls war sie bestimmt kräftiger, als sie aussah.
Der hinterste Raum in der zweiten Etage war
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