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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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lange geschwiegen hatte und dass James sie noch immer mit eiskaltem und anklagendem Blick musterte. Also richtete sie sich zu voller Größe auf und erwiderte so herablassend wie möglich: »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, James. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest. Ich muss die Beerdigung meines Mannes organisieren.«
    Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen rauschte sie aus dem Zimmer und hörte kurz darauf, wie ihre Schwiegereltern Türen knallend das Haus verließen. Dann war es bis auf Nathans Würgegeräusche im Flur wieder still.
    Nathan hatte nicht geweint. Weder letzte Nacht, noch heute. Vermutlich würde er es auch nicht tun. In dieser Hinsicht war er Catherines Sohn. Alles – die Arzttermine, die ständigen Spritzen und die qualvollen Untersuchungen – ließ er trockenen Auges und ohne eine Miene zu verziehen über sich ergehen. Bei den Krankenschwestern war er sehr beliebt, obwohl er schon zusammenzuckte, wenn sie ihn nur berührten.
    Sicher würde er heute Nacht wieder Albträume haben. Schreckliche Träume, in denen er wild um sich schlug. Wenn er erwachte, schrie er etwas von Schmerzen und Spritzen und verlangte, dass die Ärzte ihn endlich in Ruhe ließen. Manchmal – allerdings kam das seltener vor – rief er in die Dunkelheit hinein, er müsse ersticken, und verlangte, dass im Haus alle Lichter angeknipst wurden. Dass ihr persönlicher Albtraum auch der ihres Sohnes geworden war, faszinierte Catherine und machte ihr gleichzeitig Angst.
    Prudence würde sich um ihn kümmern. So wie Beatrice, Margaret, Sonya, Chloe und Abigail vor ihr. So viele Gesichter, dass Catherine sie beinahe vergessen hatte. Natürlich erinnerte sie sich an Abby, die erste. Jimmy hatte sie eingestellt, als Nathan erst eine Woche alt gewesen war. Eigentlich hatte Catherine kein Kindermädchen gewollt, weil sie plante, ihren Sohn selbst zu versorgen und ihn sogar zu stillen. Doch schon nach einer Woche war sie, benommen vom Schlafentzug, durchs Haus getaumelt, mit einem Baby, das sich ständig an ihrer von Milchflecken bedeckten Brust erbrach. Sie konnte nicht mehr essen und nicht mehr schlafen und schaltete wie unter Zwang Lichter ein.
    Sie hielt das Geschöpfchen im Arm, das so klein und so hilflos war, dass es mehr wimmerte als schrie, und fühlte sich von seiner schieren Zerbrechlichkeit überfordert. Überall lauerten Gefahren. Babys starben. Sie verhungerten, wurden misshandelt, erkrankten an der Grippe, fielen aus dem Fenster oder erlagen dem plötzlichen Kindstod. Sie wurden in vorbeifahrende Autos gezerrt, von Spielplätzen weggelockt und von Priestern missbraucht. Und es gab noch viel Schlimmeres, davon hatte sie gehört. Manche Erwachsenen empfanden das Weinen kleiner Kinder tatsächlich als erregend. Selbst ein Säugling, ein schwacher, hilfloser Säugling, konnte schuldlos in die falschen Hände geraten und zur Beute eines Perversen werden.
    Wie viele Babys schrien in diesem Moment vor Hunger und wurden dafür geschlagen? Wie viele Babys blickten voller Hoffnung in die Augen der Person, der sie anvertraut waren, und ernteten dafür nur einen Schlag auf den Kopf? Wie viele Kinder wurden täglich geboren, unschuldig, niedlich und ohne Grenzen, nur um von den Menschen verdorben zu werden, die ihnen das Leben geschenkt hatten?
    Catherine fehlte die Kraft dafür. Die Welt war zu schlecht und Nathan zu klein. Er würde sie brauchen, und sie würde versagen. Und dieses Scheitern würde sie endgültig zerstören.
    Sie ertrug es nicht, ihn im Arm zu halten, brachte es aber auch nicht über sich, ihn in sein Bettchen zu legen. Es gelang ihr nicht, ihn zu lieben, doch sie hielt es nicht aus, getrennt von ihm zu sein. Stattdessen zerfiel sie in unzählige winzige Scherben, eine übermüdete junge Mutter, die mit ihrem neugeborenen Sohn durch die Flure wanderte und lautlos in sich zusammenbrach.
    Am siebten Tag war Jimmy mit einem jungen Mädchen im Schlepptau erschienen. Freundlich hatte er Catherine alles erklärt und dabei ganz langsam gesprochen und nur kurze Wörter verwendet, weil sie im Moment nicht mehr verstehen konnte. Von nun an würde Abby sich um Nathan kümmern. Abby würde ihn füttern. Abby würde ihn versorgen. Catherine solle sich hinlegen. Jimmy hatte ihr ein Glas Saft mitgebracht. Und zwei Tabletten. Wenn sie die schluckte, würde alles besser werden. Und so hatte es seinen Anfang genommen. Catherine tauschte ihr Baby gegen eine Dosis Valium ein. Danach war es nicht mehr so

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