Lauf, wenn du kannst

sie die Umarmung. Und dann wurde ihr klar, was nicht stimmte.
    Der Luftzug. Sehr kalt, sehr frisch, so wie draußen im Freien, wehte er die Treppe hinunter und zauste Nathans feines braunes Haar. Und er trug den unverkennbaren Geruch des Todes heran.
     
    Bobby schlief zur Abwechslung einmal nicht. Er hatte es aufgegeben. Zum Teufel mit Schlaf, gesunder Ernährung und maßvoller sportlicher Betätigung. Er hatte Dr. Lanes gute Ratschläge genommen und sie aus dem Fenster geworfen. Nun lief er auf müden, wackeligen Beinen im Wohnzimmer auf und ab, kaute auf einer kalten Pizza herum, kippte einen Liter Cola hinterher und steigerte sich in eine aufgebrachte Stimmung hinein.
    Auf seinem Anrufbeantworter hatten sich die Nachrichten gehäuft. Viele davon stammten von Reportern. Einige waren von seinen Kollegen. Bruni lud ihn noch einmal zum Essen ein. Zwei Jungs vom Sondereinsatzkommando wollten sich mit ihm verabreden. Alle meldeten sich, um sich nach dem Befinden des schießwütigen Psychobullen zu erkundigen.
    Eigentlich hätte er dankbar sein und sich darüber freuen sollen. Einer für alle, alle für einen, so lautete doch ihr Motto.
    Aber er ärgerte sich. Er hatte keine Lust auf diese Anrufe und wollte keine Aufmerksamkeit. Offen gestanden fühlte er sich gar nicht wohl in der Rolle des schießwütigen Psychobullen, des bedauernswerten Scharfschützen, der im Dienst seine Waffe abgefeuert und damit sein restliches Leben verpfuscht hatte. Zum Teufel mit dem Team, zum Teufel mit der Kameradschaft. Schließlich waren es nicht die anderen, die ihren Arsch hinhalten mussten.
    Ja, inzwischen tat er sich selbst so richtig leid.
    Er überlegte, ob er sich bei seinem Bruder in Florida melden sollte. Hallo, Georgie, alter Junge, wie lange ist es jetzt her? Fünfzehn Jahre? Ich dachte, ich lasse mal wieder von mir hören. Ach, übrigens, ich habe vor ein paar Tagen einem Typen die Rübe weggepustet, und das hat mich an etwas erinnert. Was genau ist eigentlich damals mit Mom passiert?
    Vielleicht war es ja besser, stattdessen Dr. Lane anzurufen. Gute Nachricht: Ich habe heute keinen Alkohol getrunken. Schlechte Nachricht: Ich habe dafür alles andere in den Sand gesetzt. Ich hätte da mal eine Frage. Wenn man die Möglichkeit erhält, seinen eigenen Hals zu retten, indem man jemanden ans Messer liefert, sollte man es dann tun? Oder würde es einen auf lange Sicht in den Wahnsinn treiben?
    Er konnte sich selbst nicht ausstehen, wenn er in dieser Stimmung war. So von innerer Unruhe erfüllt, dass er aus der Haut hätte fahren können, und gleichzeitig zu zornig, um klar zu denken. Offen gestanden, hätte er am liebsten wild um sich geballert.
    Stattdessen läutete das Telefon. Er hob ab und war nicht einmal mehr überrascht.
    »Hier spricht Catherine.« Die raue Frauenstimme aus seinen Träumen flüsterte ihm ins Ohr. »Kommen Sie sofort. Ich glaube, jemand ist in mein Haus eingebrochen. Bitte, Officer Dodge, ich brauche Sie.«
    Dann machte es klick, und das Freizeichen gellte Bobby im Ohr.
    »Ein Einbrecher, da lachen ja die Hühner«, murmelte Bobby. Doch dann zuckte er die Achseln. Der Anruf hatte zumindest ein Problem für ihn gelöst. Nun hatte er einen Grund, die Waffe einzustecken.
     
    Als Bobby am Haus der Gagnons vorbeifuhr, rechnete er eigentlich mit einem Déjà-vu-Gefühl. Aber es blieb aus. Donnerstagnacht hatte es hier von Scheinwerfern, Kameras und umherhastenden Menschen gewimmelt. Nun, kurz vor Mitternacht an einem Wochentag, strahlte das von würdigen Backsteinhäusern geprägte Viertel – eine echte Dame, die mit Lockenwicklern zu Bett ging – nur diskrete Ruhe aus.
    Bobby sah sich nach einem Streifenwagen um, konnte aber zu seinem Erstaunen keinen entdecken. Er wäre jede Wette eingegangen, dass Copley die Bostoner Polizei mit der Überwachung von Mrs Gagnon beauftragt hatte.
    Bobby parkte zwölf Häuserblocks entfernt vor dem Kino in der Huntington Avenue. Er sah nach, welcher Film in der Spätvorstellung lief und wann diese begann. Der Teil seines Verstandes, der kühl und wie losgelöst vom Rest zu arbeiten schien, fand es amüsant, dass er bereits dabei war, ein Alibi zu konstruieren.
    Auf dem zwölf Blocks langen Rückmarsch nach Back Bay versuchte dieser vernünftige Teil seines Verstandes, ihn zu warnen. Was tat er da eigentlich? Was erwartete er, wenn er ehrlich mit sich war? An Catherines Einbrechergeschichte hatte er keine Minute geglaubt. Stattdessen dachte er an Harris’ Worte. Sie wird Sie