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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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am nächsten Nachmittag einen Termin bei dem neuen Arzt hatten. Sie hielt inne.
    Aus der Küche und an der Hausbar vorbei ging sie in das tiefer gelegene Wohnzimmer.
    »Nathan, wir müssen miteinander reden.«
    Widerstrebend wandte Nathan ihr vom Fernsehen glasigen Augen zu.
    »Dr. Tony kann dich nicht mehr behandeln.«
    »Warum?«
    Catherine zögerte. Sie war zwar voller guter Vorsätze gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, doch beim Anblick seiner ängstlichen Miene verließ sie der Mut. »Dr. Tony findet, dass du einen ganz besonderen Arzt brauchst. Einen Superdoktor mit Superkräften.«
    Trotz seiner erst vier Jahre hatte Nathan schon den Blick des geborenen Skeptikers. Mein Gott, warum war Prudence denn noch nicht zurück? Gut, sie hatte heute ihren freien Tag, aber musste sie deshalb gleich die ganze Nacht wegbleiben? Wusste sie nicht, wie sehr Catherine sie brauchte? Sie versuchte es erneut.
    »Morgen gehen wir zu einem neuen Arzt, Dr. Iorfino. Kleine Jungen so wie du sind sein Spezialgebiet.«
    »Ein neuer Arzt?«
    »Ein neuer Arzt.«
    Nathan sah sie an. Dann hob er bedächtig seine Tasse mit Sojamilch und ließ den Inhalt auf den Teppich rinnen.
    Catherine holte tief Luft. Sie war nicht ärgerlich auf Nathan – noch nicht. Aber sie spürte, wie eine ungerechtfertigte Wut auf Prudence in ihr aufstieg, die sie im Stich gelassen hatte und sie dadurch zwang, sich allein mit diesem Problem auseinander zu setzen.
    »Das war nicht sehr nett von dir, Nathan. Nur böse Jungen schütten ihre Milch auf den Teppich. Du willst doch kein böser Junge sein.«
    Nathans Unterlippe begann zu zittern. Er schob sie vor und nickte heftig. »Ich bin böse! Und böse Jungen müssen nicht zum Arzt!«
    Er hatte Tränen in den Augen, dicke, unvergossene Tränen, die einer Mutter mehr weh taten als zorniges Schluchzen.
    »Dr. Iorfino wird dir helfen«, beharrte Catherine. »Er macht dich wieder gesund, damit du ein großer Junge wirst und mit den anderen Kindern spielen kannst.«
    »Ärzte machen niemanden gesund! Die stechen einen bloß mit Spritzen. Von Spritzen wird man nicht gesund!«
    »Eines Tages werden sie etwas nützen.«
    Nathan sah ihr direkt in die Augen. »Ärzte sind Scheiße!«, verkündete er laut und deutlich.
    »Nathan!«
    Und dann geschah es. »Ich weiß, was du vorhast«, sprach er in einem schneidenden und tückischen Tonfall weiter, den sie noch nie bei ihm gehört hatte. »Du willst mich umbringen.«
    Catherine blieb fast das Herz stehen. Sie kehrte zurück in die Küche und hoffte, dass Nathan nicht bemerkt hatte, wie stark ihre Hände zitterten. Die Verantwortung liegt jetzt bei dir, sagte sie sich immer wieder. Das war die wichtigste Folge von Jimmys Tod. Reine Ausreden und Ausflüchte mehr. Sie musste nun selbst entscheiden. Bei ihr liefen die Fäden zusammen.
    Catherine griff nach einer Rolle Küchenpapier und ging wieder ins Wohnzimmer. Inzwischen wirkte Nathan schon viel weniger selbstbewusst. Er hatte das Kinn an die magere Brust gedrückt und die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen.
    Offenbar erwartete er, dass sie ihn schlagen würde. Das hätte Jimmy in dieser Situation getan. Als sie Nathan die Küchenrolle hinstreckte, nahm er sie nach kurzem Zögern entgegen.
    »Bitte wisch die Milch auf, Nathan.«
    Er blieb zusammengekauert sitzen. »Weißt du was? Du putzt die eine Hälfte auf und ich die andere. Wir erledigen das gemeinsam.«
    Sie nahm die Rolle und riss energisch Stücke davon ab. Bald folgte er ihrem Beispiel. Als sie sich auf Händen und Knien niederließ, tauchte er neugierig aus seinem Kissenwall auf. Sie fing an, den Teppich zu betupfen. »Schau, es geht ganz leicht raus.«
    Langsam und bedächtig machte er es ihr nach.
    Nachdem sie fertig waren, trug sie den durchweichten Zellstoffhaufen in die Küche und warf ihn weg. Im Wohnzimmer nahm Nathan die Videokassette aus dem Rekorder. Dann saß er mitten auf dem mit Soja befleckten Teppich und sah klein und verloren aus.
    Es war Schlafenszeit. Sie starrten beide in die Dunkelheit, die oben an der Treppe lauerte.
    »Mommy«, flüsterte er. »Warum werde ich einfach nicht gesund, obwohl ich schon bei so vielen Ärzten war?«
    »Ich weiß nicht. Aber eines Tages finden wir die Lösung, und dann kannst du herumtollen wie die anderen Kinder auch. Komm, Nathan, du musst jetzt ins Bett.«
    Als er die Arme ausstreckte, erfüllte sie ihm seinen unausgesprochenen Wunsch. Für einen Sekundenbruchteil drückte er sie fest an sich, und kurz erwiderte

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