Lauf, wenn es dunkel wird
auf.
Während Cheyenne trank, knurrte Griffins Magen so laut, dass sie ihren Kopf in seine Richtung drehte. Er schaute auf den Wecker neben dem Bett. Es war fast ein Uhr. »Ich mach mir was zum Essen. Hast du Hunger?« Die Frage war total abwegig. Gab es Umgangsformen, wie man jemanden behandelte, den man entführt hatte?
Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Glaub schon.«
In der Küche durchsuchte er den Kühlschrank nach etwas Essbarem.
Es gab eine Packung Würstchen, die noch nicht angebrochen war. Sie hatten zwar keine Brötchen mehr, aber immerhin noch Brot.
Alle paar Minuten schlich er zu Cheyenne zurück, um nach ihr zu sehen, aber sie hatte sich kein einziges Mal bewegt.
Hoffnung und Furcht
Cheyenne klemmte sich die Coladose zwischen die Knie, damit sie sie gleich wiederfinden konnte. Das war einfacher, als wenn sie mit der Hand so lange über den Tisch fuhr, bis sie mit den Fingerrücken dagegenstieß. Griffin hatte ihren Fuß losgebunden und dann hatte er sie hierhergebracht, wahrscheinlich ins Esszimmer. Diesmal hatte er ihren Fuß an einer Sprosse des Stuhls festgemacht, auf dem sie saß. Cheyenne war sicher, dass sie sich losbinden könnte, wenn sie nur genug Zeit hätte. Aber wann würde sie schon genug Zeit haben?
Bevor sie sich überhaupt an den Tisch setzen konnten, musste Griffin erst einmal einigen Krempel zur Seite schieben, was nur bestätigte, was Cheyenne schon über das Haus vermutete. Diese Menschen lebten zwar hier, aber es war nur ein Haus, kein Zuhause. Niemand kümmerte sich darum. Abgesehen von dem Zimmer, in das Griffin sie zuerst gebracht hatte, schien alles andere versifft. Wenn er sie herumführte, musste er sie mal auf die eine oder andere Seite reißen, Sachen aus dem Weg treten, während er leise fluchte.
In ihrer rechten Hand hielt sie eine zusammengeklappte Scheibe Brot, in der ein heißes Würstchen klemmte. Das Würstchen war lange gekocht worden, sodass es geplatzt war. Das Brot war nicht mal getoastet. Auch egal, sie hatte eh keinen Hunger. Und es war einfacher zu essen als etwas, wofür sie Messer und Gabel brauchte. So musste sie ihr Besteck wenigstens nicht über den Teller kratzen, damit sie rausbekam, wo das Essen lag. Sie hatte es nie gemocht, mit jemandem zusammen zu essen, außer mit ihrem Dad und Danielle. Was, wenn sie sich mit Soße vollkleckerte oder fröhlich vor sich hin grinste, während etwas Grünes zwischen ihren Zähnen steckte?
»Wenn du isst, woher weißt du, wo das Essen liegt?«, fragte Griffin.
»Mein Dad sagt es mir gern, als wäre er ein Kampffliegerpilot. So in die Richtung«, jetzt sprach sie mit tiefer Stimme, »die Erbsen sind auf elf Uhr, der Hackbraten ist auf der Zwei, und auf sieben Uhr kommt der Kartoffelbrei.«
Griffin lachte. Für einen Moment hatte Cheyenne vergessen, dass sie sich nicht mit einer Freundin wie Sadie oder Kenzie unterhielt. Aber nur für einen Moment.
Sie redete mit vollem Mund weiter. »Er hat mir mein Essen immer klein geschnitten, weil er Angst hatte, dass ich mich verschlucke. Was ziemlich peinlich ist, besonders, wenn wir unterwegs sind.« Insgeheim hoffte Cheyenne, dass die Leute sie für einen sehenden Menschen hielten. In Restaurants oder Kinos legte sie ihren Blindenstock immer dorthin, wo niemand ihn sehen konnte. Jeder sagte ihr, dass sie gar nicht blind aussah, sondern »normal«. Wenn sie ihren Blindenstock versteckte, redeten die Leute mit ihr und nicht zu ihren Begleitpersonen. Wenn sie herausfanden, dass sie blind war, änderte sich das sofort. Cheyenne hatte es satt, dass die Kellner erst alle anderen Bestellungen aufnahmen und dann sagten: »Und was darf ich ihr bringen?«
»Ich schätze mal, dass es trotzdem schwierig ist, das Essen auf dem Teller zu finden, selbst wenn dir jemand sagt, wo alles liegt.«
»Deswegen bringe ich mir mein Mittagessen auch selbst mit in die Schule. Dann packe ich es einfach aus und esse eins nach dem anderen. Und weil ich es mir selber mache, weiß ich genau, was ich habe.«
Ein weiterer Grund, warum Cheyenne sich ihr eigenes Mittagessen mitnahm, war, dass sie nicht wollte, dass jemand ihr Tablett für sie trug. Die Leute mussten ihr so schon genug helfen. Sie mochte es nicht, dass sie mehr bekam, als sie zurückgeben konnte. Sie machte sich im Kopf eine Strichliste von denen, die ihr halfen, damit alles einigermaßen ausgeglichen blieb. Wenn sie Kenzie bei einem Aufsatz für Englisch half, war es okay für sie, Kenzies Angebot anzunehmen und sich von ihr
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