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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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sah ihre Hand in Stücke unterteilt, wie bei einem Kaleidoskop? Sie drehte den Kopf und strengte ihr linkes Auge an, aber alles, was sie sah, waren ihre Finger, die wie ein verschwommener Seestern aussahen.
    Was lag auf der anderen Seite des Fensters? Sie spürte den Umrissen nach und hielt inne, als sie in der Mitte des Fensters, ungefähr auf Augenhöhe, eine Unterteilung fand. Und, wie ihre Finger ihr sagten, auch noch eine Verriegelung in Form eines Halbmondes. Irgendetwas in ihr löste sich ein winziges bisschen, als sie die Verriegelung drehte und sie sich ein wenig bewegte. Sie hatte es gehofft und gleichermaßen gefürchtet.
    Cheyenne verfolgte im Kopf den geschlängelten Weg, den sie gegangen waren, als sie aus dem Auto gestiegen waren. Diese Fähigkeit hatte sie sich in den letzten drei Jahren angeeignet. Bevor sie ihr Augenlicht verloren hatte, konnte sie sich nicht mal darauf verlassen, dass sie links von rechts richtig unterschied. Eines der ersten Dinge, die ihr der Orientierungs- und Mobilitätstrainer nach dem Unfall beigebracht hatte, war, dass sie sich immer, immer, immer an den Himmelsrichtungen orientieren sollte.
    Inzwischen war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Es war wie ein Computerprogramm, das im Hintergrund lief und sofort abrufbar war, wenn sie wissen wollte, ob sie nach Osten, Westen, Süden oder Norden schaute. Als sie aus dem Auto gestiegen war, hatte sie die Sonne im Rücken gespürt. Also musste das Osten gewesen sein, weil die Sonne zu diesem Zeitpunkt noch immer aufging. Zum Haus waren sie mehr oder weniger genau Richtung Westen gelaufen. Ein Schlafzimmer lag im hinteren Teil des Hauses - also noch weiter im Westen - und daneben war das Bad, in dem sie jetzt stand.
    Auf der anderen Seite des Fensters war - tja, was? Keine Männer, keine elektrischen Werkzeuge, kein Zufahrtsweg. Wahrscheinlich auch keine Nachbarn, sonst hätte Griffin sie wohl kaum mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen draußen rumlaufen lassen. Vor ihnen war alles ruhig und still gewesen. Keine Geräusche. Keine Gerüche. Bis auf den Duft nach Kiefernnadeln.
    Wer wusste, ob jemand sie vielleicht gerade beobachtete oder ein Strauch vor dem Fenster stand, der es verdeckte? Wer wusste, ob sie nicht gleich auf ein Hindernis stoßen würde - vielleicht dieser wild gewordene Hund, ein Stacheldrahtzaun oder ein Mann mit Fäusten, oder noch schlimmer mit einer Pistole - wenn sie es überhaupt schaffen würde, rauszukommen? Wer wusste, ob Griffin nicht einfach die Tür aufbrechen würde, zum Fenster rannte und ihr in den Rücken schoss?
    Aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit zum Zögern.
    Cheyenne holte tief Luft und schob das Fenster nach oben - betend, dass Griffin das leise Klappern über das gluckernde Geräusch des in den Abfluss fließenden Wassers nicht hörte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie kämpfte gegen den Hustenreiz an und stopfte das Ende der Schnur in ihren Socken, damit sie nirgendwo hängen blieb. Jetzt musste alles schnell gehen. Sie klappte die Klobrille und den Klodeckel runter, kletterte darauf und stützte sich mit den Händen auf das Fensterbrett.

 
Einem Hirngespinst nachjagen
    Cheyenne war schon ziemlich lange im Bad. Aber Griffin wollte sich nicht vor der Tür herumdrücken. Er wollte nicht wie ein Perverser aussehen. Also lief er den kleinen Hausflur auf und ab.
    Schließlich klopfte er vorsichtig an die Tür. Keine Antwort. Er rief und klopfte lauter.
    Erst jetzt fiel ihm das Fenster hinten im Bad ein. Scheiße! Er drehte den Türknauf, aber es war abgeschlossen. Griffin erinnerte sich, dass er gehört hatte, wie sie den Riegel vorgeschoben hatte und wie er dachte, dass sie schüchtern war, immerhin hatte sie auch das Wasser laufen lassen. Jetzt wusste er, dass sie ihn zum Narren gehalten hatte.
    Er rammte seine Schulter gegen die Tür. Seine Zähne schlugen durch die Wucht aufeinander, aber die Tür hielt. Er spannte seine Muskeln an und trat seitwärts gegen die Tür, wie so ein Kung-Fu-Typ aus dem Fernsehen. Er trat einmal, zweimal und dann beim dritten Mal knackte etwas und die Tür sprang auf.
    Ein Schwall kalter Luft traf ihn ins Gesicht. Ein Wunder, dass die Kälte nicht schon vorher unter der Türschwelle durchgekrochen war und ihn alarmiert hatte, so kalt, wie es war. Das Badezimmerfenster stand weit offen. Griffin rannte hin und sah hinaus. Draußen war nichts zu hören. Es wehte kein Lüftchen, selbst die Kiefernnadeln zitterten nicht. Der Wald

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