Lauf, wenn es dunkel wird
begann in ungefähr sechs Meter Entfernung vom Haus. So lange hatte er sie dann auch nicht im Bad allein gelassen. Selbst wenn Cheyenne im schlimmsten Fall bis tief in den Wald gelaufen war, müsste er sie immer noch durchs Unterholz brechen hören. Aber es war komplett still.
Wie war das möglich? Na ja, er hatte ja schon gemerkt, wie trittsicher sie war. Jeden Fuß setzte sie so vorsichtig auf wie eine Katze und zog ihn sofort zurück, wenn sie merkte, dass etwas nicht ganz stimmte.
Auch wenn er sie nicht sehen konnte, weit konnte sie nicht sein. Je eher er ihr hinterherging, desto schneller würde er sie kriegen. Er musste sie zurückbringen, sie wieder anbinden und überzeugen, dass sie Roy nichts davon erzählen durfte. Denn wenn sein Dad das herausbekam, würde er Griffin grün und blau schlagen. Und Cheyenne wahrscheinlich auch. Aber dafür musste Griffin sie erst mal finden und zurückbringen. Wenn er sie nicht fand - er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was dann geschah.
Er musste sich beeilen und sie finden, bevor sie sich verletzte. Wenn sie ganz zerkratzt zurückkäme, wäre es schwieriger, die Sache zu vertuschen. Ein Ast konnte sie am Hals erwischen oder ins Auge stechen. Oder sie würde sich auf dem unebenen Boden den Fuß verstauchen.
Im Moment lief sie wahrscheinlich so schnell durch den Wald, wie sie nur konnte, weil sie wusste, dass ein bisschen Zeit ihr einziger Vorteil war. Widerwillig empfand er Respekt.
Griffin stieg auf die Toilette und hielt sich am Fensterrahmen fest. Gerade als er das Bein rausschwingen wollte, ließ ihn ein winziges Geräusch zur Badewanne schauen. Da er jetzt gut einen halben Meter höher stand, konnte er genau über den blauen Duschvorhang mit seinen ausgeblichenen grünen und gelben Seepferdchen blicken.
Und was er sah, war Cheyenne, die in der Badewanne kauerte. Versteckt hinter dem Duschvorhang.
Sie hatte die Hände auf den Mund gepresst und hielt das Gesicht nach oben. Ihre Augen schienen ihn genau zu fixieren, und es war absolut seltsam, dass sich ihr Gesichtsausdruck nicht änderte, als er sie direkt anschaute. Sie war nicht vollkommen reglos. Ein leichtes Beben lief durch ihren Körper, es sah fast so aus, als würde sie zittern. Es war klar, dass sie mit jeder Faser ihres Körpers horchte. Darauf wartete, dass er aus dem Fenster sprang und einem Hirngespinst nachjagte. Während sie - ja was eigentlich? Ein Telefon fand und sich in einem Zimmer einschloss? Aus der Haustür rannte und die Straße suchte? Oder sich sogar im Haus versteckte und hoffte, dass sie hier nie nach ihr suchen würden?
Als Griffin halb vor, halb hinter dem Fenster balancierte, hörte er, wie plötzlich das Geräusch von zwei hintereinanderfahrenden Autos die kristallklare Luft zerschnitt. Es waren der Honda und der Pick-up, was fast so übel war, als wenn es Roys Suburban gewesen wäre. TJ und Jimbo waren zurück.
In ein paar Minuten würden die beiden im Haus sein. Sie würden Cheyenne begaffen wollen und darüber sprechen, was sie am Einkaufszentrum gesehen hatten. Sie würden damit prahlen, wie mutig sie gewesen waren.
Griffin zog in einer einzigen fließenden Bewegung sein Bein zurück und sprang. Nicht aus dem Fenster, sondern in die Wanne. Es klang wie eine Batterie Knallfrösche, denn die Ringe des Duschvorhangs brachen und der Vorhang riss unter Griffins Gewicht ah. Cheyenne wand sich verzweifelt unter dem feuchten, sauer riechenden Duschvorhang. Griffin schlang seine Arme um ihren eingehüllten Körper. Solange er noch konnte, bevor die beiden Männer also die Motoren ausgestellt und ihren Weg ins Haus gefunden hatten, ging er das Risiko ein und schrie sie an.
»Hör mir zu!« Er drängte sie gegen die gekachelte Wand. Ihr Kopf schlug dumpf dagegen. »Hör zu! In einer Minute werden diese Typen da sein. Und wenn sie herausfinden, dass du abhauen wolltest, werden sie es Roy erzählen. Und er wird uns das Leben zur Hölle auf Erden machen.« Er schüttelte sie. Sie musste das einfach kapieren. »Das Leben von uns beiden. Willst du zusammengeschlagen und an allen vieren gefesselt werden? Willst du das?«
Der Duschvorhang rutschte von ihrem Gesicht. Ihre Lippen waren wie zu einem Zähnefletschen zurückgezogen. »Ich weiß, wie du heißt. Du heißt Griffin. Und jetzt weiß ich auch ganz sicher, dass dein Vater Roy heißt. Wenn ich das der Polizei erzähle, finden sie euch sofort.«
Griffin packte Cheyennes Oberarme, ganz fest, und lockerte seinen Griff auch nicht,
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