Lauf, wenn es dunkel wird
Ich bin tot! Ich werde nie wieder etwas sehen - keinen Film, keine Gesichter, nicht mal mein eigenes.« Sie geriet ins Stocken, als sie an all die Dinge dachte, die sie nicht mehr sehen würde - Blumen und Hunde und die Farbe ihrer Kleider und Sonnenuntergänge und Blätter, die sich verfärbten, Fernsehshows und Bücher, Konzerte, hübsche Jungs, hübsche Schauspieler, hübsche Babys, rausfinden, was das seltsame Geräusch gemacht hatte, die Farbe der verschiedenen Eissorten und die glänzenden Metallbehälter, in denen das Eis aufgereiht war, Ritzen im Gehweg, Menschen, die sie anlachten.
Danielles Stimme blieb ruhig. »Du bist erst dreizehn. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.«
»Erzähl mir keinen Scheiß, von wegen ich bin erst dreizehn. Mein Leben ist vorbei. Ich werde nie selbst mit dem Auto fahren. Ich werde nie mit einem Jungen verabredet sein, und wenn ich ganz viel Glück habe, bekomme ich einen Job in einer Behindertenwerkstatt.« Cheyenne sprach in einem Singsang weiter, wütend, dass man noch immer ihre Tränen durchhören konnte. »Ich habe es satt, wenn Leute sagen: Du bist doch noch jung, du gewöhnst dich daran, Gott verschließt nie alle Türen, er lässt immer ein Fenster offen. Was, bitte schön, soll der ganze Bockmist!? Ich werde mich nicht daran gewöhnen. Ich bin blind. Meine Mom ist tot und ich bin blind!«
Es war lange still. »Du hast recht«, sagte Danielle schließlich ruhig. »Aber es ist, wie es ist, Cheyenne. Du kannst es nicht ändern, also musst du damit zurechtkommen. Du musst herausfinden, wie du Dinge selbst tun kannst. Du kannst ein neues Leben anfangen. Und es kann ein gutes Leben sein. Aber dazu musst du es erst mal versuchen.«
»Über was redet ihr beiden Hübschen dadrinnen«, rief Cheyennes Vater durch die geschlossene Tür.
»Geh weg«, schrie Cheyenne. Er sollte nicht sehen, wie Tränen aus ihren nutzlosen Augen quollen. Denn dann würde er auch zu weinen anfangen. Sie wollte keine neue Mitleidsorgie. Sie wollte einfach vergessen. Sie wollte einschlafen und dann aufwachen und dann erleichtert feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.
Sie wartete, bis die Schritte ihres Vaters verstummten. Dann sagte sie leise: »Aber es ist zu schwer. Es ist einfach zu schwer.«
Danielle war unnachgiebig. »Hast du es nicht allmählich satt, wie ein Baby zu leben? Dass alle alles für dich machen müssen? Willst du nicht lernen, wie du selbst ein paar Dinge tun kannst?«
Sie hatte recht. Cheyenne fühlte sich allmählich wie ein Baby, das im Körper einer Dreizehnjährigen gefangen war. Manchmal fütterte ihr Dad sie sogar.
Für eine Weile saß sie regungslos da, und dann, langsam, nickte sie. Sie fühlte, wie Danielle sich neben sie aufs Bett setzte und ihre Arme um sie legte. Einen Moment machte Cheyenne sich steif, aber dann ließ sie sich vor- und zurückwiegen, während Danielle immer wieder tröstend »Sch-sch« flüsterte.
So fand ihr Dad sie vor. Später, als Danielle und ihr Vater ihr verkündeten, dass sie heiraten würden, fragte sie sich, ob Danielle die Situation vielleicht geplant hatte. Um zu zeigen, dass sie den Platz von Cheyennes Mutter einnehmen konnte.
Wie auch immer, Danielle hatte recht gehabt. Und dank ihrer Ermutigung hatte Cheyenne gelernt, wie sie viele Dinge selbst machen konnte, mehr als sie in den ersten schrecklichen Wochen nach dem Unfall je für möglich gehalten hatte. Das meiste hatte sie in einem Internat gelernt, das zwei Stunden von ihrem Zuhause entfernt war.
Viele der Leute dort standen wie Cheyenne unter Schock und fragten sich, was mit ihnen passiert war. Cheyenne erinnerte sich noch besonders gut an einen Typen, der ständig sagte: »Aber wie soll ich denn Sachen machen, wenn ich nicht Auto fahren kann?« Nach einer Weile hätte sie ihn am liebsten geschlagen. Er war mindestens vierzig, also hatte er schon gelebt. Er hatte seine Chance gehabt. Cheyenne hatte noch nicht einmal damit angefangen. Einmal hatte ihre Mom sie auf einem nahe gelegenen Friedhof fahren lassen, aber jetzt würde sie das nie mehr machen können. Ihre Mom war auf eben diesem Friedhof beerdigt. Das Grab hatte Cheyenne noch nie besucht.
Am Anfang hatte sie sich auf der Schule wie eine Außerirdische gefühlt, die gerade auf einem fremden Planeten gelandet war. Sie musste Dinge neu lernen, die sie schon so lange beherrschte, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, sie jemals nicht gekonnt zu haben. Wie man selber isst. Wie man sich anzieht.
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