Lauf, wenn es dunkel wird
Knöchel band er wieder am Bett fest, ließ ihre Hände aber frei. »Entschuldige.«
Sie meinte, dass er ihr kurz über den Kopf strich, war sich aber nicht ganz sicher. Komisch, aber sie ließ ihn nur ungern gehen. Wer würde als Nächster durch die Tür kommen? Griffin mochte schlecht sein, aber sie wusste, dass die anderen drei Männer schlimmer waren.
Und warum war Roy so wütend?
Was war passiert? Wollten ihre Eltern kein Lösegeld zahlen? Aber das war unmöglich. Ihr Vater würde alles tun, um sie zurückzubekommen. Noch bevor sie ihn im Fernsehen gehört hatte, hatte sie das gewusst.
Vielleicht hatte Griffin ja auch seinen Vater angerufen, während sie geschlafen hatte, und ihm von ihrem Fluchtversuch erzählt. Ob er deswegen den Stock in den Holzofen geworfen hatte?
In der Luft hing noch immer der Gummigeruch und Cheyenne fing an zu husten. Rasselnder, feuchter, abgehackter Husten, so als würde sie sich die Lunge aus dem Leib husten. Als es endlich vorüber war, lag ein Schweißfilm auf ihrer Haut, obwohl es in Griffins Zimmer kalt war. Sie fand die Steppdecke und zog sie über sich. Sonst konnte sie nichts tun. Cheyenne schloss die Augen.
Eines der ersten und schwierigsten Dinge, die Cheyenne nach ihrem Unfall lernen musste, war, wie man den Langstock benutzte. Ihr Dad wollte sie erst nicht an den Kursen teilnehmen lassen, aber Danielle konnte ihn dann doch überzeugen. Das war noch bevor Cheyennes Vater und Danielle miteinander ausgingen und bevor Danielle ihre Stiefmutter wurde. Damals war sie nur eine der netten Stimmen der Krankenschwestern gewesen, die sich um sie kümmerten.
Obwohl in Danielles Fall die Stimme gar nicht so nett gewesen war. Danielle war der Meinung, dass Cheyenne nicht zu viel über ihren Verlust trauern sollte. Sie sollte sich stattdessen lieber darauf fokussieren, was sie noch hatte und was sie damit machen konnte.
Die ersten beiden Monate nach dem Unfall hatte Cheyenne ihr Bett praktisch nicht verlassen. Zunächst weil ihre Brüche heilen mussten. Als sie nach den ersten zehn kritischen Tagen außer Gefahr war, hatte das Krankenhaus empfohlen, sie in ein Pflegeheim zu bringen, wo sie sich wieder ganz erholen konnte. Ihr Vater wollte nichts davon hören. Seine dreizehnjährige Tochter sollte nicht von alten Menschen mit Schlaganfällen und gebrochenen Hüften umgeben sein. Stattdessen bezahlte er privat angestellte Krankenschwestern, die sie 24 Stunden am Tag betreuten. Eine von ihnen war Danielle.
Als Cheyenne erst einmal klar geworden war, dass sie nie wieder würde sehen können, hatte sie aufgegeben. Was sollte das alles? Die Welt war ein unheimlicher Ort. Ihr Physiotherapeut wollte, dass sie auf eine besondere Schule ging, wo sie lernen sollte, wie sie am besten mit ihrer Blindheit umging. Cheyenne sagte zu allem Nein, und ihr Vater stritt nicht mit ihr. Sie wollte nur noch in ihrem Bett bleiben. Um sie herum war das unbekannte Nichts. Und wie sollte sie sich in einem unbekannten Nichts bewegen? Wenn sie irgendwohin musste, schob sie ihre Füße vorwärts wie auf Inlineskates. So hatte sie wenigstens immer mit einem Fuß Bodenkontakt.
Alles, was ihr geblieben war, war ein zitternder und schwitzender Körper. Ihr sich drehender Magen, ihre pochenden Schläfen, ihr Atem. Sie kannte die Welt da draußen nicht mehr. Das Einzige, was sie noch kannte, war sie selbst. Ihre Welt war auf die Konturen ihrer Haut zusammengeschrumpft.
Immer wenn ihr Vater sie ermutigte aufzustehen, klagte Cheyenne darüber, dass sie Kopfschmerzen hatte oder dass ihr schwindelig war. Manchmal stimmte das sogar. Und manchmal wusste sie nicht, ob es stimmte oder nicht. Meistens blieb sie im Bett und hörte Musik. Ihr Dad stand dann in der Tür zu ihrem Zimmer und beobachtete sie - sie konnte ihn hören, auch wenn er nicht immer sagte, dass er da war - und Cheyenne drehte einfach die Musik lauter.
Eines Tages dann zog Danielle ihr die Kopfhörer aus den Ohren.
»Hey«, hatte Cheyenne protestiert. Ihre Hände tasteten auf der Bettdecke herum, konnten die Kopfhörer aber nicht finden.
»Hör mal«, sagte Danielle forsch und sachlich. »Wenn du nicht lernst, wie man unabhängig ist, wird das ein langes langweiliges Leben für dich. Da könntest du genauso gut tot sein.«
Cheyenne hatte sich die vergangenen Wochen ziemlich zusammengenommen, doch jetzt rastete sie aus. Sie hatte das ganze Mitleid satt, aber die Erwartungen dieser Frau waren absolut übertrieben.
»Ich könnte genauso gut tot sein?
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